1872, Briefe 183–286
197. An Carl von Gersdorff in Berlin
<Basel,> Sonntag 4 Febr. 72.
Mein lieber Freund
wieder nur ein paar Zeilen, voll des herzlichsten Dankes für Deine Mittheilungen, die mich aus schweren Besorgnissen befreiten oder wenigstens fast befreiten. Inzwischen habe ich auch ein Telegramm gelesen „der Alexandriner Gersdorff ist unentbehrlich geworden“, das ich mir nicht ganz, aber doch fast ganz deuten kann. “Was Du auch thun magst — denke daran dass wir beide mit berufen sind, an einer Culturbewegung unter den Ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche vielleicht in der nächsten Generation, vielleicht noch später der grössern Masse sich mittheilt. Dies sei unser Stolz, dies ermuthige uns: im Übrigen habe ich den Glauben, dass wir nicht geboren sind glücklich zu sein, sondern unsere Pflicht zu thun; und wir wollen uns segnen, wenn wir wissen, wo unsere Pflicht ist.
Meinem Buche wird es doch schwer, sich zu verbreiten: eine ausgezeichnete Anzeige, die Rohde für das litterarische Centralblatt gemacht hatte, ist von der Redaction zurückgewiesen worden. Das war die letzte Möglichkeit, dass eine ernste Stimme in einem wissenschaftlichen Blatte sich für mein Buch erklärte: jetzt erwarte ich nichts — oder Bosheiten oder Albernheiten. . Aber ich rechne auf einen stillen langsamen Gang — durch die Jahrhunderte, wie ich Dir mit der grössten Überzeugung ausspreche. Denn gewisse ewige Dinge sind hier zum ersten Male ausgesprochen: das muss weiterklingen. Um mich selbst bin ich unbesorgt: denn ich will nichts für mich, am wenigsten eine Carrière zu machen. Jetzt arbeite ich heiter an meinen pädagogischen Problemen. Für die Osterferien bin ich sehr gebeten, mit einem Professor im benachbarten Freiburg (Baden) nach Athen, Naxos und Creta zu reisen: was sagst Du dazu! Besonders wenn Du hörst, wer es ist — der Sohn von Felix Mendelsohn-Bartholdi — Nun, ich werde Nein! sagen. Ich erlebe immer etwas Curioses. Den ersten Brief eines Philologen (Professor an der Universität Bern) über mein Buch, den ich fast nicht kenne, lege ich bei: gelegentlich schickst Du mir den Brief zurück.
An Deinen verehrungswürdigen Vater die besten Empfehlungen und den Ausdruck meiner Freude über seine Theilnahme.
Behalt mich lieb und habe Dank! Dank!
Dein Friedr Nietzsche