1872, Briefe 183–286
257. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Splügen, 1. Oktober 1872>
Meine liebe gute Mutter,
diesmal wirst Du lachen: denn es kommt ein langer Brief, mit Reisebeschreibung und allen möglichen Vergnüglichkeiten. Halb widerwillig entschloß ich mich nach Italien abzureisen; es lag mir schwer auf dem Gewissen, bereits an Dich einen Zusagebrief fortgeschickt zu haben. Aber wer widersteht dem launenhafter Weise plötzlich umgekehrten schönsten reinsten Herbst- und Fußreisewetter! Oder um noch mehr die Wahrheit zu sagen: ich empfand den brennendsten Drang, einmal mit meinen Gedanken eine kurze Zeit ganz allein zu sein. Wie mir das über Erwarten gelungen ist, kannst Du vielleicht schon aus der obenauf gedruckten Hôtel-Adresse errathen.
Die gute Lisbeth mag Dir erzählen, wie sonderbar die Abreise von Basel ausfiel: ich hatte diesmal die halbe Minute zuviel, die Du an jenem Sonntag zu wenig hattest, kurz ich kam, Dank dieser halben Minute gerade noch mit. Ich fuhr zuerst mit einem Baseler Ehepaar, das ich nicht kannte, aber zu kennen scheinen mußte — bekannte Situation, doch nicht ohne Gefahren. Von Baden (Schweiz) telegraphirte ich an Lisbeth: da es keinen Aufenthalt gab, so übernahm ein aussteigender Herr (Hr. Haller aus Bern) mit großer Gefälligkeit die Besorgung der Depesche. In Zürich fast angelangt, entdeckte ich als Wagongenossen einen mir gut bekannten und noch besser empfohlenen Musiker Goetz (Schüler v Bülows), der mir von seiner durch Kirchners Weggang bedeutend vermehrten Musikthätigkeit in Zürich erzählt: am meisten aber war er durch die nahe Aussicht erregt, daß seine Oper im Theater zu Hannover angenommen und zum ersten Male aufgeführt werde. Von Zürich an wurde mir im Wagon allmählich, trotz guter und bescheidener Gesellschaft, so frostig und angegriffen, daß ich den Muth verlor, bis Chur durch zu fahren. Mit Mühe dh. unter Kopfschmerzen erreichte ich Weesen am Wallenstädter See, in dunkler Nacht. Ich finde den Wagen des Hôtel „Schwert“ und fahre mit ihm: so kam ich in ein hübsch behagliches, doch ganz leeres Gasthaus. Unter Kopfschmerzen stand ich am andern Morgen auf. Mein Fenster führte auf den Wallensee, den Du Dir ähnlich wie den Vierwaldstätter See vorstellen magst, doch in größerer Simplicität und ohne dessen Erhabenheit. Dann fahre ich nach Chur, leider mit immer wachsendem Unbehagen, das mich fast theilnahmlos an Ragaz usw vorübergleiten ließ: ich war glücklich in Chur aussteigen zu können, refüsirte die Anfrage der Postbeamten, ob ich mit fahren wolle — was doch der Plan war — und lege mich, im Hôtel Lukmanier einkehrend, geschwind zu Bett. Es war Morgens 10 Uhr. Bis 2 habe ich wohl geschlafen, fühlte mich besser und aß etwas. Ein tüchtiger und kenntnißreicher Kellner empfiehlt mir den Spaziergang nach Pasugg: das mir bereits durch ein Bild der Illust. Zeitung im Gedächtniß war. In Stadt Chur ist Sonntagsruhe und Nachmittagsstimmung. Ich steige ganz bequem die Landstraße empor: alles liegt, wie am Tag vorher in goldiger Herbstverklärung vor mir. Herrliche Rückblicke, fortwährend wechselnde und sich erweiternde Umblicke. Nach einer halben Stunde ein kleiner Seitenpfad, der mich in schönen Schatten bringt — denn es war bis dahin ziemlich warm. Hier kam ich nun in die Schlucht durch die die Rabiusa braust: ich kann sie nicht genug preisen. Auf Brücken und schmalen am Felsgehäng sich hinziehenden Wegen dringe ich, eine halbe Stunde etwa, vor und finde nun, durch eine Flagge angezeigt, das Bad Pasugg. Zunächst enttäuschte es mich: denn ich erwartete ein Pensionshaus und fand nur eine mäßige Wirthschaft, doch mit Sonntagsgästen aus Chur angefüllt, mit bequem schmausenden und vielen Kaffee schlürfenden Familien. Zuerst trinke ich an der Salz-Soda Quelle drei Gläser: dann erlaubt es bald mein veränderter Kopf, auch noch eine Flasche weißen Asti spumante — Du erinnerst Dich? — nebst weichstem Ziegenkäse hinzuzufügen. Ein Mann mit chinesischen Augen, der an meinem Tische sitzt, bekommt auch vom Asti zu trinken; er dankt und trinkt mit geschmeichelten Empfindungen. Dann händigt mir die Wirthin eine ganze Masse Analysen der Wasser usw ein; zum Schluß führt mich der Besitzer des Bades Sprecher, ein exaltirter Mensch, auf seinem ganzen Besitzthum herum, dessen unglaublich phantastische Lage ich anerkennen muß. Ich trinke nochmals und in guten Quantitäten von den 3 ganz verschiedenen Quellen: der Besitzer verheißt noch neue Hauptquellen und bietet mir, mein Interesse gewahrend, Genossenschaft zur Gründung eines Hôtels usw an — Hohn! Das Thal ist äußerst reizvoll, für einen Geologen von unergründlicher Manigfaltigkeit ja Launenhaftigkeit. Es zeigten sich Graffitadern, aber auch Quarz mit Ocker und der Besitzer phantasirte gar von Goldlagern. Man sieht die verschiedensten Steingänge und Steinarten gebogen, abgelenkt, zerknickt, wie etwa am Axenstein im Vierwaldstättersee, nur viel kleiner und wilder. — Spat, gen Sonnenuntergang, gehe ich zurück, mit rechter Freude an diesem Nachmittag — obwohl ich öfters an den Naumburger Empfang oder Nichtempfang denken mußte. Ein kleines Kind mit blassen Haaren sucht sich Haselnüsse und ist drollig. Endlich holt mich ein altes Paar ein, Vater und Tochter, mich anredend und somit auch Gegenrede empfangend. Er, ein hochbejahrter Graukopf, Tischlermeister, war vor 52 Jahren auch in Naumburg, auf seiner Wanderschaft und erinnerte sich eines sehr heißen Tages. Sein Sohn ist Missionair in Indien, seit 1858 und wird für nächstes Jahr in Chur erwartet, um seinen Vater noch einmal zu sehen. Die Tochter war mehreremal in Ägypten gewesen und sprach von Basel als einer unangenehm schwülen und heißen Stadt. Ich begleitete die guten Humpelleute noch etwas. Dann esse ich in meinem Hôtel, wo ich bereits einige Gefährten für die morgende Splügentour vorfinde: leider darunter einen Juden. Montags um 4 stand ich auf, nach 5 ging die Post. Vorher mußten wir in einem übelriechenden Wartezimmer sitzen, unter Graubündner und Tessiner Bauern: überhaupt ist um diese frühe Stunde der Mensch ein widerwärtiges Geschöpf. Die Abfahrt erlöste mich: denn ich hatte mich mit dem Conducteur verständigt, daß ich seinen Sitz, hoch auf dem Wagen einnehmen konnte. Da war ich allein: es wurde die schönste Postfahrt, die ich je erlebt habe. Ich schreibe nichts von den ungeheuren Großartigkeiten der Via mala: mir ist es als ob ich die Schweiz noch gar nicht gekannt habe. Das ist meine Natur, und als wir in die Nähe des Splügen kamen, überkam mich der Wunsch, hier zu bleiben. Ich fand ein gutes Hôtel, und ein rührend einfaches Zimmerchen. Doch läuft ein Balkon an ihm vorbei, mit schönster Aussicht. Diese<s> hochalpine Thal (c. 5000 F.) ist ganz meine Lust: da sind reine starke Lüfte, Hügel und Felsblöcke von allen Formen, rings herum gestellt mächtige Schneeberge: aber am meisten gefallen mir die herrlichen Chausseen, in denen ich stundenweit gehe, theils nach dem Bernhardino zu, theils auf die Paßhöhe des Splügen, ohne daß ich auf den Weg Acht zu geben habe: so oft ich aber mich umsehe, ist gewiß etwas Großartiges und Ungeahntes zu sehen. Morgen wird es wohl schneien: worauf ich mich von Herzen freue. Ich esse Mittags, wenn die Posten kommen, zusammen mit den Fremden. Ich brauche gar nicht zu sprechen, kein Mensch kennt mich, ich bin völlig einsam und könnte hier wochenlang sitzen und spazierengehen. Auf meinem Zimmerchen arbeite ich mit frischer Kraft dh. ich notire und sammle einzelne Einfälle zu meinem jetzigen Hauptthema „Zukunft der Bildungsanstalten“.
Du glaubst gar nicht, wie sehr es mir gefällt. Die Schweiz hat, seit dem ich diesen Ort kenne einen ganz neuen Reiz für mich; jetzt weiß ich doch einen Winkel, wo ich, mich kräftigend und in frischer Thätigkeit, aber ohne jede Gesellschaft leben kann. Die Menschen sind Einem hier wie Schattenbilder.
Nun habe ich Dir alles geschildert, die nächsten Tage verlaufen nun wie der erste. Es fehlt Gott sei Dank! die verfluchte Abwechslung und Zerstreuung. Hier bin ich und außerdem noch Feder Tinte und Papier — wir grüßen Dich allesammt von Herzen.
Dein getreuer Sohn
Friedrich Nietzsche.
Bitte, erzähle Lisbeth von mir: sie wird sich freuen. Grüsse meine Naumburger Freunde recht schön.