1872, Briefe 183–286
198. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel,> 4 Febr. 72
Deine Anzeige, mein lieber Freund, ist ein wahres Meisterstück einer verkürzten und verjüngten Wiederspiegelung des Originals, und ich fühle mich Deiner wieder einmal im allertiefsten Grunde versichert. Ich bin geradezu erstaunt (und mit mir Overbeck, dem ich sie vorgelesen), wie schön und neu, wie stilvoll Dir diese so schwierige Aufgabe gelungen ist, und weiß nicht, wie ich Dir dafür danken soll als durch das offenste Geständniß, daß ich so etwas wie diese Anzeige nicht zum zweiten Mal erleben werde. Heute schicke ich sie noch nach Tribschen, damit meine Freunde sich mit mir Deiner erfreuen. Ärgere Dich nur nicht über den Zarncke; es ist ja Prostitution, mit dem Schreiber solcher Briefe zu verkehren. Also fahre er dahin; sein Sündenmaß ist voll, denn die Unverschämtheit, an die Ranke-anzeige etwas angeflickt zu haben, dürfen wir ihm nicht verzeihn. Übrigens folgt er, in Betreff meines Buches, nicht sowohl eigenen Impulsen als denen seiner Freunde Curtius und Overbeck etc.: denn die indianische Wuth gegen mich herrscht in diesem Kreise. Welche Frechheit, von einem „Freundschaftsdienste“ bei einer solchen Anzeige zu reden! die kein Zweiter machen könnte! Am wenigsten der alberne Herbartianer Zimmermann (der Schopenhauers Ästhetik „vernichtet“ hat und höchster Bewunderer von Hanslick ist!) oder auch der gute Lehrs, der „mit Musik und Alterthum“ nicht „ausreichend vertraut ist“, „um der Anzeige gewachsen zu sein.“ Wir wollen uns nur gewöhnen, das Allerdümmste jetzt in dieser Sache zu erfahren. Von der Art, wie so ein Buch entsteht, von der Mühe und Qual, gegen die von allen Seiten andringenden anderen Vorstellungen sich bis zu diesem Grade rein zu halten, von dem Muth der Conception und der Ehrlichkeit der Ausführung hat ja niemand einen Begriff: am allerwenigsten vielleicht von der enormen Aufgabe, die ich Wagner gegenüber hatte und die wahrlich in meinem Innern viele und schwere Contristationen verursacht hat — die Aufgabe, selbst hier selbständig zu sein, eine gleichsam entfremdete Position einzunehmen; und daß dies mir, selbst bei dem allerhöchsten am Tristan dargestellten Problem zu ihrer Erschütterung gelungen ist, gerade das bezeugen mir meine Tribschener Freunde. Das darf ich Dir sagen, mein geliebter Freund — gerade an diesem Punkte fühle ich mich stolz und glücklich und bin überzeugt, daß mein Buch nicht untergehn wird. — Der dumme Zarncke glaubt, daß es Dir darauf ankomme, mir zu nützen! Als ob nicht alles vielmehr darauf ankäme, anderen durch eine solche Anzeige zu nützen! Nun, lassen wir die Todten ihre Todten begraben!
Ich will einen Versuch wagen, Deine Anzeige an die Augsburgerin zu schicken: ob ich gleich von vorn herein das größte Mißtrauen habe. — Im Betreff des Centralbl.’s hatte ich die sichere Empfindung, daß es nichts würde und stieß ein Triumphgeschrei aus als ich Deinen Brief heute bekam. Nun, auch unsere Zeit kommt! Und wir müssen zur rechten Zeit wissen, daß alle Compromisse nur schädlich sind: Kampf auf die Kanone!
Schreibe doch an Wagner’s: Du wirst das allerrührendste Entgegenkommen finden. Denn man liebt Dich dort: und wir mögen Pläne machen, welche wir wollen, Du bist immer dabei bedacht.
In herzlicher Dankbarkeit
Dein
Friedrich Nietzsche
Du hast doch meine Notiz über Greifswald bekommen?