1872, Briefe 183–286
240. An Hans von Bülow in München
Basel 20 Juli 1872.
Verehrter Herr,
wie gerne möchte ich Ihnen noch einmal aussprechen, mit welcher Bewunderung und Dankbarkeit ich Ihrer immer eingedenk bin. Sie haben mir den Zugang zu dem erhabensten Kunsteindruck meines Lebens erschlossen; und wenn ich außer Stande war Ihnen sofort nach den beiden Aufführungen zu danken, so rechnen Sie dies auf den Zustand gänzlicher Erschütterung, in dem der Mensch nicht spricht, nicht dankt, sondern sich verkriecht. Wir Alle sind aber mit dem tiefsten Gefühle persönlicher Verpflichtung von Ihnen und von München geschieden; und außer Stande Ihnen dies deutlicher und beredter auszudrücken gerieth ich auf den Einfall, Ihnen durch Übersendung einer Composition, in der freilich dürftigen, aber nothwendigen Form einer Widmung intra parietes, meinen Wunsch zu verrathen, Ihnen recht dankbar mich erweisen zu können. Ein so guter Wunsch! Und eine so zweifelhafte Musik! Lachen Sie mich aus, ich verdiene es.
Nun höre ich, aus den Zeitungen, daß Sie noch einmal, am 8 t. August, den Tristan aufführen werden. Wahrscheinlich bin ich wieder zugegen. Auch mein Freund Gersdorff will wieder zur rechten Zeit in München sein. — Von Hr von Senger wurde ich in diesen Tagen durch einen Brief erfreut. Haben Sie R W<agner>’s Sendschreiben über klassische Philologie gelesen? Meine Fachgenossen sind in einer angenehmen Erbitterung. Ein Berliner Pamphlet gegen meine Schrift — unter dem Titel „Zukunftsphilologie!“ — befleißigt sich, mich zu vernichten, und eine wie ich höre, bald erscheinende Gegenschrift des Prof. Rohde in Kiel hat wiederum die Absicht, den Pamphletisten zu vernichten. Ich selbst bin mit der Conception einer neuen, leider wieder „zukunftsphilologischen“ Schrift beschäftigt und wünsche jedem Pamphletisten eine ähnliche Beschäftigung. Mitten darin, möchte ich aber wieder die heilende Kraft des Tristan erfahren: dann kehre ich, erneuert und gereinigt, zu den Griechen zurück. Dadurch aber, daß Sie über dies Zaubermittel verfügen, sind Sie mein Arzt: und wenn Sie finden werden, daß Ihr Patient entsetzliche Musik macht, so wissen Sie das pythagoreische Kunstgeheimniß, ihn durch „gute“ Musik zu kuriren. Damit aber retten Sie ihn der Philologie: während er, ohne gute Musik, sich selbst überlassen, mitunter musikalisch zu stöhnen beginnt, wie die Kater auf den Dächern.
Bleiben Sie, verehrter Herr, von meiner Neigung und Ergebenheit überzeugt!
Friedrich Nietzsche.