1872, Briefe 183–286
259. An Gustav Krug in Naumburg
<Chiavenna, 5. Oktober 1872>
Mein lieber Freund
auf merkwürdige Weise nach Chiavenna verschleudert und gerade noch eine Poststunde angenehm durch Briefschreiben ausfüllen wollend, gedenke ich Deiner, mit der Empfindung, etwas Schwer-verzeihliches noch auf dem Herzen zu haben. Ist es glaublich dass zu Hause, auf meinem Piano, zum Absenden bereit, nie abgesandt Deine schöne Quartett Musik ruht! Nein es ist nicht glaublich! —
Doch jetzt muß ich erst, auf Anrathen des Kellners, Suppe essen
Neugestärkt, erkläre ich noch einmal, dass es nicht glaublich ist. Aber es ist wahr!
Ich muss mich nochmals stärken. —
Nun dachte ich, harmloser Weise, im October, Dich zu sehen, Dich zu hören und im gemeinsamen Genüsse Deiner Musik mich zu reinigen — Da aber wurde ich nach Chiavenna verschlagen, wo ich nun schwermüthig überdenke, was zu Haus Deine Compositum auf meinem verstimmten Pianino liegend macht? Ob sie weich liegt? Ich zweifle. Ob sie sich selbst spielt? Nicht aufzuwerfende Frage. Aber das ahne ich dass Du Dich nach ihr sehnst und mich verwünschest.
Ach, jetzt ahne ich auch die Quelle alles jenes sonderbaren Wetterunfugs, der, mich begleitend, von Station zu Station die Tristanfrage in mir lebendig macht:
„Warum mir diese Pein!“
Jetzt weiss ich es. Der ewige Südwind ist ein verkappter Norddeutscher, über den Nordpol weggeschickt und so von unten herum kommend, eine Art von Föhn, erzeugt in Naumburg, foenum Numburgense, species extraordinaria.
Diese Nacht fahre ich an dem Comersee entlang. Ob Mondschein im Calender steht? Morgen früh bin ich, zu mehrtägigem Aufenthalt, in Bergamo. Ein Paar Tage weiter, in Brescia — dann geht die Melodie, in Form eines Kanons, rückwärts, Bergamo Lekko Chiavenna Splügen Chur Zürich Basel.
Zwei edle italiänische Städte, mit herrlichen venetianischen Schildereien und deshalb von mir ausgewählt, Bergamo und Brescia, Brescia und Bergamo!
Inzwischen wird bei Genf mit rührender Wuth meine „Tragödiengeburt“ ins Französische übersetzt. Meine Übersetzerin, Gräfin Diodati, hat früher einmal die Schriften Schumann’s in’s Französische übertragen und damit sich hinreichend für eine so schwierige Arbeit vorbereitet. Auch die italiänische Übersetzung wird in Florenz vorbereitet.
An den Übersetzungen hoffe ich die geehrten Sprachen selbst zu lernen. Denn mit meinem Italiänisch steht es böse.
Mit meinem letzten italiänischen Seufzer schliesse ich
Addio amico!
Federigo.