1872, Briefe 183–286
252. An Erwin Rohde in Hersbruck
<Basel, 26. August 1872>
Warum, liebster Freund, höre ich seit bereits drei Wochen, nichts mehr von Dir? Ist Dir mein letzter Brief (mit der Bülowschen Einlage) nicht zugegangen? Oder hat die Post einen Frevel auf dem Gewissen? Oder bist Du gar, was der Dämon verhüte, krank? Am liebsten nehme ich an, daß Du Dich bequem am Seestrande gelagert hast und etwas den Gebrauch der Feder verlernt hast? Sollte aber die Schwinge Dir wieder wachsen, so benutze sie, ich bitte Dich, um zu mir zu fliegen i. e. metaphorice — ohne Metapher: schreib mir doch einmal, mein lieber Getreuer!
Hier ist inzwischen Romundt’s Schrift im Druck fertig geworden, unter dem Titel „das Wesen der Dinge und die menschliche Erkenntniß“: wobei mir einfiel, das langweilige „Ding an sich“ wieder mit einem neuen Namen zu benamsen, nämlich so „das Derdiedas“: äußerst abstrakte Artikelbenutzung zur Bezeichnung des rein-inhaltlich-Unbestimmbaren!
Romundt’s Habilitation führt mich auf Freiburg, wohin wir Alle Dich gewünscht haben — das wäre eine herrliche Dreieinigkeit geworden! Aber Brambächlein hat im Stillen gerauscht und geraschelt, ohne daß Jemand etwas ahnte. Nun hat Biedermann Horaz-Keller die Stelle.
Ich habe übrigens endlich an’s rheinische Museum die Fortsetzung meines Artikels über’s „Certamen“ eingeschickt: worauf mir Ritschl eine verdammt-gutmüthige Postkarte zuschickte, die ich Deiner Bewunderung anempfehle. Mit was für dummem Mißverstehen-wollen hat man zu kämpfen! Übrigens ist’s mir recht, wenn es ihm wohlgeht und er sich bei dem Glauben beruhigt, daß ich wieder in’s „alte vertraute sympathische Fahrwasser eingelenkt“ bin; er will mir aufrichtig wohl und ich bin ihm ebenso aufrichtig dankbar. Aber freilich! „Nur eingelenkt, nur eingelenkt!“ ruft er jetzt mir zu: und ich antworte: „man darf nicht sagen, was man denkt!“ Denn es ist doch haarsträubend daß er meint, weil ich einen Aufsatz über das Certamen schicke, habe ich aufgehört „Tragödiengeburtsphilolog“ zu sein!
Wie steht es denn mit Deinem Fritzschianum? Von Bayreuth aus werde ich angelegentlich darnach gefragt, und ich selbst habe herzlichen Appetit darnach. Bist Du mit dem braven F. zufrieden? Wir wollen uns doch bemühen, diese gute Firma etwas für uns festzuhalten. Sobald Du etwas Größeres zu drucken hast, so denke doch an ihn; denn ich habe alle die Teubner, Engelmänner usw. verschworen. In mir drängen sich jetzt die Entwürfe etwas durcheinander: doch fühle ich mich immer auf einer Bahn — es giebt keine Verwirrung, und wenn man mir nur Zeit läßt bringe ich’s an’s Tageslicht. Besonders fruchtbar ist meine Sommerbeschäftigung mit den vorplatonischen Philosophen geworden.
Im jubilirenden München bin ich nicht gewesen, das habe ich Dir wohl geschrieben. Wie steht es nun mit dem Herbst? Ich bin noch nicht ganz entschieden, ob ich nach Norddeutschland komme.
Es ist so wohlgemuthes Spätsommerwetter, daß man recht glücklich sein müßte, wenn man zusammen wäre! Ich habe immer nur einen Wunsch, nicht hastig zu werden — und solche Witterung predigt diese Lehre anschaulich, blau und goldgefärbt.
Ich preise Basel, weil es mir erlaubt ruhig, wie auf einem Landgütchen, zu existieren. Dagegen ist mir schon der Klang eines Berliner Organs verhaßt, wie die Dampfmaschine. Kürzlich besuchte uns hier so ein Berliner deus ex machina, der Redakteur der Spenerschen, Wehrenpfennig — ich hatte Honigseim im Bauche, als er wieder abreiste.
Nun, lieber guter treuer alter Kamerad, sei gesund und — ein bischen selig, nämlich schreibselig, im Hinblick auf Deinen schweizerisch-vereinsamten, in der Tonne lebenden
Διογενὴς Λαερτιάδης.