1872, Briefe 183–286
246. An Richard Wagner in Bayreuth
<Basel, 25. Juli 1872>
Geliebter Meister
nächste Woche gehe ich wieder nach München; ich gebrauche vor mir selbst den Vorwand, es geschehe, um bei dem Jubiläum der Universität unser Basel mit zwei anderen Collegen zu vertreten. Im Grunde bin ich mir völlig klar, dass ich den Tristan zum dritten Male haben will: dazu kommt dass ich nie eine Aufführung des fliegenden Holländer, nie den Lohengrin erlebt habe — nie den Lohengrin! Deshalb maskire ich mich mit der Miene eines Universitäts-Vertreters und reise — obwohl ich genug Gründe hätte nicht zu reisen. Es ist fast zum Lachen — aber ich glaube, Gersdorff wird auch wieder da sein! Vielleicht sogar Rohde! Auch schleppe ich von hier aus meinen Freund Romundt, unseren Privatdocenten der Philosophie, mit. Er ist zwar unmusikalisch, als ursprünglicher Friese, nach dem Satze „Frisia non cantat“, aber ich lasse die Entschuldigung nicht mehr gelten. Am Ende weiss Keiner genau, wo bei ihm die Musik sitzt. Also er muss mit! Und so wird es wieder ein Freundes-Zauberkreis — Sie aber, geliebter Meister, sind „mitten unter uns“, wie es in der Bibel heisst.
Das „Sendschreiben eines Philologen“ ist, wie ich aus Rohdes Briefen höre, bald fertig, und Fritzsch wird es verlegen. Es ist wirklich unglaublich, wie weit der Begriff des „Musikverlags“ geht. Dass aber jenes Sendschreiben doch in diesem Verlage gut aufgehoben ist, glaube ich, nachdem die eigentlich philologische Generalfirma Teubner in Leipzig in wirklich unverschämter Weise den Verlag jener Schrift von sich abgewiesen hat. Sie wettet nämlich Zehn gegen Eins, dass nicht hundert Exemplare davon verkauft werden. Nun! Geschäftserfahrung gegen meinen guten Glauben an die „Menschheit“! Ich wette hundert gegen eins, dass wir mehr als dreihundert Exemplare absetzen. (So dass wenigstens Fritzsch keinen Verlust, und einen kleinen Vortheil hat!) Ich schätze die Bekanntschaft eines so anständigen und braven Verlegers, wie Fritzsch sich gezeigt hat in dem Grade, dass mir der Gedanke höchst peinlich wäre, ihm zu einem schlechten Geschäft gerathen zu haben.
In diesen Tagen schickte er mir den fünften Band Ihrer ges. Schriften, von dem mir drei Viertel ganz neu war! In einem ganz besonderen Verhältnisse befand ich mich zu dem „Brief an M<arie> W<ittgenstein> über Liszts symphon. Dichtungen“, besonders wenn ich mich der Bemerkung Ihrer Frau Gemahlin erinnerte, dass sie die Vollendung dessen, was ihr Vater unter symph. D. verstanden habe, in dem „Tribschener Idyll“ (seligen Angedenkens!) erkenne.
Ich glaube, ich werde es bald einmal zu büssen haben, dass ich mich mit solchen Terminis wie „das Apollinische“ und das „Dionysische“ bekannt gemacht und eingeführt habe: denn unwillkürlich scheint nun der ehrsame Leser (wohlverstanden der geneigte, der sozusagen begeisterte Leser!) zu verlangen, dass ich nun in der gleichen Tonart fortfahre. Das merke ich schon jetzt, wo ich mit den Vorstudien und ersten Linien von „Homers Wettkampf“ gut beschäftigt bin: darin ist freilich vom „Dionysischen“ auch nicht eine Spur! In Folge dessen grosses Missbehagen der „Freunde“, die mich nur metaphysisch zu kennen scheinen.
Im Anfange des nächsten Winters halte ich noch meinen Baselern den sechsten und siebenten Vortrag „über die Zukunft der Bildungsanstalten“. Ich will wenigstens fertig werden, selbst in der herabgestimmten und niederen Form, in der ich bis jetzt jenes Thema behandelt habe. Für die höhere Behandlung muss ich eben „reifer“ werden und mich selbst zu bilden suchen — ach, eine so gute Absicht! Aber was kann ich, so allein erreichen! Irgendwann muss ich nach Bayreuth flüchten, zu Ihrer Nähe, als der wahren „Bildungsanstalt“. Leben Sie bis dahin wohl, geliebter Meister!
Ihr treuer
Friedrich Nietzsche.