1872, Briefe 183–286
230. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 18. Juni 1872>
Mein lieber Freund
ich habe an den Folgen eines Darm- und Magenleidens ein Paar Tage im Bette gelegen und bin auch heute recht matt — erwarte also nichts sonderlich Vernünftiges, wenn ich jetzt Deinen Brief, nach mannichfaltigen sich kreuzenden Überlegungen und Berechnungen, beantworte. Ach, mein lieber Freund, in solchen Fällen ist das, was das „Klügste“ heißt, gar nicht durch Schlauheit zu errathen: aber hinterdrein merkt man, ob man es ergriffen hat oder nicht. Denn der Fall ist absonderlich und ich wüßte nicht nach welchen Analogien zu entscheiden. Ich für meinen Theil lege außerordentlichen Werth darauf daß die Philologen in ein heilsames Erstaunen gerathen, wenn Du plötzlich, als Philolog, an meine Seite trittst. Was W<agner> in seiner Liebe für mich geschrieben hat, weiß ich nicht: bei der jetzigen Roheit unsrer Zunftbrüder wird es jedenfalls anders wirken als er erwartet. Bei solchen Gelegenheiten wird die unsichtbare Verschwörung gegen den „Geist“ sichtbar. Das ist aber das Unverhoffteste, ja das eigentlich Schreckliche, daß ein Philologe, in Würden, es wagt, mir zur Seite zu stehen: daß das nie geschehen würde, das eben hat den grenzenlos frechen Ton jenes Berliner Jungen möglich gemacht. Übrigens nehme ich des Bestimmtesten an, daß er nur das Echo seiner inspirirenden „Höheren“ ist, zu seiner Entschuldigung. Zu heilsamer Warnung und damit man nicht bei jedem neuen Produkt mit diesen ekelhaften Berliner Gesundbrünnlern zu thun hat, würdest Du, auch nach W’s Brief, etwas höchst Ersprießliches thun, wenn Du unsre Position, dem Alterthum gegenüber, in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit und Strenge den Philologen schildertest und vor allem betontest, daß hier das Mitreden nicht jedem beliebigen Dr phil. freisteht, geschweige denn gar das Recensiren. Lieber Freund, ich denke mir Deine Schrift vor allem ausgehend von allgemeineren Beobachtungen über unser philologisches Treiben: je allgemeiner und ernster diese Betrachtungen sind, um so leichter ist es, das Ganze doch an die W.sche Adresse zu richten. Du könntest etwa im Anfang erklären, warum Du Dich gerade an W. wendest, warum nicht zB. an eine Philologenversammlung: daß es uns jetzt ganz an einem höchsten Forum für die idealsten Wirkungen unserer Alterthumsstudien fehlt. Dann könntest Du von unsern Bayreuther Erfahrungen und Hoffnungen reden und daher die Berechtigung entnehmen, auch unsre Alterthumsbestrebungen mit diesem „Wachet auf! Es nahet gen den Tag“ zu verknüpfen. Dann auf mein Buch kommend — usw. ach, lieber Freund, es ist so lächerlich von mir, in meiner matten Stimmung, das so hinzuschreiben. Aber die Hauptsache scheint mir: die Anrede an W. muß bleiben, weil gerade die direkte Beziehung zu W. die Philologen am meisten erschreckt und zum Nachdenken zwingt. Ebenso muß aber die Hinrichtung jenes Willamowitz rein philologisch vorgenommen werden. Vielleicht könntest Du, nach einer längern an W. gerichteten Einleitung allgemeinen Inhalts, einen Strich machen und nun, mit einer entschuldigenden Wendung die Abschlachtung vornehmen. Jedenfalls aber müßte am Ende der Abhandlung der Ton wieder so allgemein und ernst werden, daß man Wilamowitz vergißt und nur noch die Bemerkenswerthe Thatsache als Leser im Gedächtniß behält, daß mit uns nicht zu spaßen ist; womit bei Philologen sehr viel erreicht ist. Denn bis jetzt gelte ich ihnen als „Spaßphilolog“ oder wie ich neulich hörte als „Musiklitterat“.
Da die Schrift jedenfalls von Nichtphilologen gelesen wird, so sei doch, lieber Freund, gerade im Citiren nicht zu „vornehm“, damit die nichtphilolog. Freunde des Alterthums erfahren, wo sie etwas lernen können. Leider verbot der Ton meiner Schrift jede Belehrung dieser Art. Wenn es geht, suche den Eindruck zu verwischen, als ob sie von Wesen aus dem Monde, aber nicht von den Griechen erzähle. — Wird das Sendschreiben vielleicht die Länge von 30—40 Seiten bekommen? Und ist es Dir recht, wenn es Fritzsch verlegt? Oder soll es Teubner nehmen? Das würde mir wohl Ritschl auswirken (R. ist fabelhaft liebenswürdig und wohlgesinnt gegen mich) — Verzeih mir, mein l<ieber> F<reund> diesen dummen Brief und mach’ es ganz nach Deiner Neigung. Aber sei überzeugt daß ich sehr großen Werth darauf lege, wenn Du es thust. Mich kann man, in meiner jetzigen Vereinzelung, als Phantasten oder Dummkopf, übersehn: stehn wir beide neben einander, beide mit der Liebe zu W., so muß es eine tolle skandaleuse Aufmerksamkeit unter unseren philolog. Biedermännern und Schuften geben. In herzlicher Liebe und Treue Dein
F N.