1872, Briefe 183–286
203. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Basel Dienstag. <19. März 1872>
Meine liebe Mutter und Schwester,
ich schwieg wirklich zu lange, aber am Ende jedes Winterhalbjahrs tritt ein Zustand der Erschöpfung ein, der Einem selbst die leichte Pflicht des Brief Schreibens recht schwer macht. Zwar habe ich auch jetzt noch jenes Halbjahr nicht abgethan: denn eine Woche Vorlesungen, 3 Wochen Pädagogium und 2 öffentl. Vorträge sind immer noch zu überwinden. Aber ich athme doch schon die Luft der Befreiung und des herankommenden Frühjahrs. Mit meinen Osterferien freilich kann ich dies mal nichts anfangen, — weil ich so gut wie keine habe. Also weder Naumburg noch französische Schweiz, sondern Basel. Ich habe Stunden bis zum grünen Donnerstag und dann wieder vom Osterdienstag an zu geben, und zwar dann noch drei Wochen. Am 29 April fängt unser Sommersemester an.
Dagegen verwende ich die Pfingstwoche, wie schon angekündigt, zu dem Baireuther Feste, und ich hoffe bald von Dir, liebe Lisbeth, etwas Entscheidendes und Entschiedenes zu hören. Übrigens darf ich mir jetzt Aussichten machen, daß ich für Dich ganz in meiner Nähe Wohnung finde, zwei Häuser entfernt von den jungen Vischers, in einem jener kleinen Häuser, wo nur ein paar Frauen wohnen.
Von meinen Erlebnissen nur so viel, daß ich mehrere mal nicht wohl war, im Ganzen aber den Winter tapfer überstanden habe. Viele erfreuliche Briefe laufen ein z.B. auch einer von Gustav Krug, dem ich zu sagen bitte, daß ich ihn um Pfingsten in Baireuth zu sehen wünschte. Sehr liebenswürdig hat die Ministerin Schleinitz, sehr großartig Franz Liszt geschrieben. Und so weiter. Hier gab es mannichfache Geselligkeit. Sehr werden Dir die vortrefflichen Prof. Immermanns gefallen. Neuerliche Einladungen zu Stähelin-Brunners, zu Bachofens, zu Präsident Thurneysens. Und so weiter.
Ist es denn nun Thatsache geworden, daß Oskar jene Naumburger Stelle bekommen hat? Das habt Ihr mir ja schon früher geschrieben und damit erklärt, weshalb unsere liebe Mutter den Sommer nicht in Basel verleben könne: daß sie dagegen Lisbeth abholen würde, das ist doch wohl alles schon früher abgemacht, weshalb ich in meinem letzten Briefe mich einfach an dies Arrangement hielt.
Vorgestern wurde mir von einem Briefe erzählt, der von Dir, liebe Lisbeth, bei Vischers eingetroffen sei. Das junge Vischer-Sarasinsche Ehepaar ist von der Reise zurück. Hartmann verläßt jetzt nun Basel. An seine Stelle tritt ein Professor Eisele, bis jetzt Abgeordneter in Berlin und Kreisrichter in Hechingen: man sagt von ihm daß er eine Naumburgerin zur Frau habe. Wer ist das? Hoffentlich Niemand aus der Schillingschen Sphäre.
Nun lebt wohl und seid herzlich gegrüßt von Eurem geplagten und
doch ferienlosen
F.