1884, Briefe 479–567
557. An Heinrich Köselitz in Zürich
<Mentone, d. 22. November 1884Pension des Etrangers.)
Hier, mein lieber Freund Gast, ist Etwas, das Ihnen gehören soll, wenn es jenen großen erhaben-ausgelassenen Orchester-Tanz, der in Ihnen schlummert, zum Aufwachen bringt — einen Tanz für großes Orchester, das gut brüllen und brausen kann! Sie können das Lied als Vorrede (oder wie man sonst sagte, als „Programm“); gebrauchen — nämlich für den Fall einer Veröffentlichung Ihrer Musik.
An den Mistral.
Ein Tanzlied.
Mistral-Wind, du Wolken-Jäger,
Trübsal-Mörder, Himmels-Feger,
Brausender, wie lieb’ ich dich!
Sind wir Zwei nicht Eines Schooßes
Erstlingsgabe, Eines Looses
Vorbestimmte ewiglich?
Hier auf glatten Felsenwegen
Lauf’ ich tanzend dir entgegen,
Tanzend, wie du pfeifst und singst:
Der du ohne Schiff und Ruder
Als der Freiheit freister Bruder
Ueber wilde Meere springst.
Kaum erwacht, hört’ ich dein Rufen,
Stürmte zu den Felsenstufen,
Hin zur gelben Wand am Meer —
Heil! Da kamst du schon gleich hellen
Diamant’nen Stromesschnellen
Sieghaft von den Bergen her!
Auf den eb’nen Himmels-Tennen
Sah ich deine Rosse rennen,
Sah den Wagen, der dich trägt,
Sah die Hand dir selber zücken,
Wenn sie auf der Rosse Rücken
Blitzesgleich die Geisel schlägt —
Sah dich aus dem Wagen springen,
Wogen peitschen, Meere zwingen,
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt
Rückwärts mit der Ferse stoßen,
Daß dein Wagen in die Rosen
Erster Morgenröthen stürzt.
Tanze nun auf tausend Rücken,
Wellen-Rücken, Wellen-Tücken —
Heil, wer neue Kunst schafft!
Tanzen wir in tausend Weisen,
Frei — sei unsre Kunst geheißen,
Fröhlich — unsre Wissenschaft!
Raffen wir von jeder Blume
Eine Blüthe uns zum Ruhme
Und zwei Blätter noch zum Kranz!
Tanzen wir gleich Troubadouren
Zwischen Heiligen und Huren,
Zwischen Gott und Welt den Tanz!
Wer nicht tanzen kann mit Winden,
Wer sich wickeln muß mit Binden,
Angebunden, Krüppel-Greis,
Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen,
Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen:
Fort aus unserm Paradeis!
Wirbeln wir den Staub der Straßen
Allen Kranken in die Nasen,
Scheuchen wir die Kranken-Brut!
Lösen wir die ganze Küste
Von dem Odem dürrer Brüste,
Von den Augen ohne Muth!
Jagen wir die Himmels-Trüber,
Welten-Schwärzer, Wolkenschieber,
Hellen wir das Himmelreich!
Brausen wir — — oh aller freien
Geister Geist, mit dir zu Zweien
Braust mein Glück dem Sturme gleich!
— Und daß ewig das Gedächtniß
Solchen Glücks, nimm sein Vermächtniß,
Nimm den Kranz hier mit hinauf!
Wirf ihn höher, ferner, weiter,
Stürm’ empor die Himmelsleiter,
Häng’ ihn — an den Sternen auf!