1884, Briefe 479–567
538. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Zürich, 30. September 1884>
Verzeihung, lieber Freund, für dies abgerissne Blättchen und noch abgerissnere Briefchen! Zunächst — zu Ihrer Beruhigung, die Partitur ist seit gestern in meinen Händen, — oder vielmehr, sie ist es bereits nicht mehr, denn ich brachte sie Nachmittags zu Hegar. Gäbe es Orchesterstimmen, so bekäme ich die Ouvertüre schon die nächsten Tage zu hören (denn Hegar macht mir hier den Herbst zum Fest, will mir die Arlésienne spielen lassen und was ich will, privatissime, in der Tonhalle und überdieß hat er Herrn Freund, den Schüler Liszts, den ich von früher her kenne, beredet, mir Einiges nach Herzenslust vorzuspielen. Oh der Jammer, daß es keine Klavierauszüge von der mir liebsten und tröstlichsten Oper giebt! Wie Ihre Melodien mir den ganzen Sommer hindurch um die Seele gelaufen sind!
Der Himmel ist nizzahaft schön und ein Tag wie der andre. Meine Schwester ist bei mir; angenehmste Art sich wohlzuthun, wenn man sich lange weh gethan hat. Gottfried Keller hat für heute mit mir eine Zusammenkunft verabredet. Ich habe den Kopf voll der ausgelassensten Lieder, die je durch den Kopf eines Lyrikers gelaufen sind. Zusammen mit Ihrer Partitur gab es einen Brief von Stein, der mir zu all den guten Dingen dieses Jahres als ein kostbares Geschenk, nämlich als ein neuer ächter Freund, geschenkt worden ist.
Kurz — seien wir voller Hoffnungen, oder um mich besser, mit Worten des alten G<ottfried> Keller auszudrücken:
„Trinkt, oh Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt! “
Ihr dankbarer Freund
N.
Bis Ende Oktober hier, Zürich Pension Neptun dann Nizza.