1884, Briefe 479–567
526. An Franz Overbeck in München
Sils-Maria Oberengadin. <Sonntag><18. August 1884>
Lieber alter Freund,
das Geld kam mir zu Händen — ich danke schönstens für die schnelle Besorgung. Die Gesundheit will dies Mal nicht recht von der Stelle, ich bin immer noch nicht die große seltsame Erschöpfung losgeworden. Still liegen — das ist an Stelle des Viel-Herumlaufens früherer Jahre getreten. Das Problem der „düsteren Abende“ ist noch nicht gelöst.
Es thut mir wohl, daß es keine Briefe von Naumburg giebt; wie erschüttert und krank ich aber noch in dieser Hinsicht bin, giebt dies zu verstehen, daß nach jedem Briefe, den ich meiner Mutter in diesem Sommer geschrieben, ich 2 Tage ernstlich krank gewesen bin. Du kannst Dir wohl vorstellen, wie die beständige Wiederholung Eines Vorgangs endlich auf mich gewirkt hat: daß man mir immer und immer wieder in die ungeheure Spannung eines großen Gefühls, das sich über das Schicksal der Menschheit ausspannt, eine Hand voll Schmutz ins Gesicht wirft (und dies auf Grund von Handlungen meinerseits, vor denen, wie mir scheint, jeder höher empfindende Mensch nur Ein Gefühl: bewundernde Verehrung haben sollte!) Daß es mir nicht ansteht, mich zu „rechtfertigen“, wo ich über das Maaß menschlicher Tugenden hinausgegangen bin, liegt auf der Hand, ich gewinne es nicht über mich; aber vielleicht habe ich eben dadurch das Verhältniß zu meinen Angehörigen in Grund und Boden verdorben. — Fühlte ich nicht, daß ich von allen Seiten jetzt isolirt bin, so würde ich diese Lostrennung von meinen Blutsverwandten nicht so schmerzlich empfinden. In Summa: es gehört zu meinen Aufgaben, auch darüber Herr zu werden und fortzufahren, alle meine Schicksale zu Gunsten meiner Aufgabe „in Gold zu verwandeln. “
Es gab doch wieder Stunden, wo diese Aufgabe ganz deutlich vor mir steht, wo ein ungeheures Ganzes von Philosophie (und von Mehr als je Philosophie hieß!) sich vor meinen Blicken auseinander legt. Dies Mal, bei dieser gefährlichsten und schwersten „Schwangerschaft,“ muß ich mir begünstigende Umstände zusammenholen und alle Sonnen mir leuchten machen, die ich noch kennen lernte. Auch werde ich wohl auf der Hut sein, solche klimatische Thorheiten zu begehen, wie die Sprünge Nizza Venedig Basel. Es muß im Wesentlichen vielmehr bei Nizza und Sils bleiben.
Ich hatte für einige Tage Fräulein Resa von Schirnhofer bei mir zu Besuch, bevor sie zu ihren Eltern, nach Graz, abreiste; es ist ein drolliges Geschöpf, das mich lachen macht und sich gut an mich gewöhnt. Diesen Winter wird sie in Paris ihre philosophischen Studien fortsetzen.
Ich esse diesen Sommer nicht allein zu Mittag, wie früher, vielmehr in Gesellschaft; meine jetzige Tischnachbarin, an der ich meine Freude habe, ist eine alte Russin (Hofdame der Kaiserin), eine veritable Schülerin Chopin’s. Mehrere Wochen waren Turneysen-Merian’s in meiner Nähe. Auch Sidney v. Wöhrmann hat mich besucht. Auch giebt es einen neuen „Verehrer,“ einen preußischen Beamten aus dem Bismarck’schen Dunstkreis, angestellt im Patent-Amte.
So viel, mein lieber Freund. Ich ersehne Nachricht von Köselitz — nein, was ich diese Musik liebe und diesen Musiker! Die Cholera-Quarantäne (von 7 Tagen) hält mich in Spannung. Zunächst will ich versuchen, es bis Ende September hier auszuhalten (falls es nicht zu schnell Winter und Schnee giebt). Dann Nizza. Ah, wenn ich doch sagen dürfte: Dresden!
Dir dankbarlich ergeben und mit vielen guten Wünschen für Dich
N.