1884, Briefe 479–567
518. An Franz Overbeck in Basel
Hôtel Piora bei Airolo <12. Juli 1884>
Lieber Freund,
es ging schlecht bisher (immer krank) — ich schrieb schon zwei Briefe an Dich, schickte sie aber glücklicherweise nicht ab. Das feucht-warme wolkige Wetter hier oben ist nichts für mich; muthmaaßlich gehe ich noch nach dem Engadin, oder nach Zürich.
Von Luzern aus schrieb ich, wie Du riethest, an meine Mutter. —
Ich habe meinen Tröster und Zusprecher bei mir — meinen Sohn Zarathustra. Wenn Du in die Ferien gehst, nimm ihn mit Dir: ich möchte, daß Du Dich auch davon überzeugtest, daß ich mit diesem Buche alles überwunden habe, was je in Worten gesagt worden ist, und daß dies noch nicht einmal sein größtes Verdienst ist.
Basel, oder vielmehr mein Versuch, in alter ehemaliger Weise mit den Baslern und der Universität umzugehn — hat mich tief erschöpft. Eine solche Rolle und Verkleidung kostet jetzt meinem Stolze zu viel.
Tausend Mal lieber Einsamkeit! Und wenn es sein muß, allein zu Grunde gehn! —
Der Gedanke, den ich Dir im „weißen Kreuz“ aussprach, mich durch eine Art von ganz persönlicher Zuschrift „an meine Freunde“ gleichsam zu erklären — war nur die Eingebung der Basler Luft, ein Gedanke der Entmuthigung. Nicht ein Wort mehr von mir! Das „Mich-Erklären“ habe ich ja schon abgethan, durch den letzten Theil der „fröhlichen Wissenschaft“. Auch der Gedanke an Vorlesungen in Nizza ist nur ein Nothwehr-Einfall der Verzweiflung: denn im Grunde — wie könnte ich jetzt noch Vorlesungen halten! — Freilich, wie ich über die nächsten Jahre hinwegkommen soll, darüber weiß ich mir nicht ein, noch aus. Aber ich habe schon Schweres überstanden und rechne darauf, daß mein Geist der Erfindung mich auch dies Mal nicht im Stich lassen wird. Einstweilen stecke ich in tiefer, tiefer Schwermuth, kaum weiß ich zu sagen warum. Es mag sein, daß ich im Stillen immer geglaubt habe, an dem Punkte meines Lebens, an dem ich angelangt bin, nicht mehr allein zu sein: daß ich da von Vielen Gelübde und Schwüre empfangen würde, daß ich Etwas zu gründen und zu organisiren hätte, und dergleichen Gedanken, mit denen ich über Zeiten gräßlicher Vereinsamung mich hinwegtröstete. Inzwischen ist es anders gekommen. Es ist alles noch zu früh, ich muß mir eine neue Geduld erfinden. Und mehr noch als Geduld. —
Ich denke Deiner und Deiner lieben Frau mit dankbarem Herzen.
Dein N.
N.B. Wie heißt doch das deutsche Wörterbuch, das viel kleiner als das Grimmsche ist, und fertig?
— Da fällt mir ein, daß im weißen Kreuz von mir ein Nachthemd zurückgeblieben ist. Laßt doch, bitte, einmal dort bei dem Zimmermädchen darnach fragen! Pardon!
Muth! Muth! Und: aequam memento rebus in arduis servare mentem — rufe ich mir zu.
Heute Abreise von hier nach Zürich, Hôtel Habis, wo ich bleibe.