1884, Briefe 479–567
498. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Nizza, gegen Ende März 1884>
Meine verehrte Freundin,
aus tiefer Arbeit heraus ein Wort! Und damit ist im Grunde auch Alles schon gesagt: meine Entschuldigung für Nicht-Schreiben, Nicht-Kommen und was ich sonst noch für „Schuld“ gegen Sie auf dem Herzen haben mag. —
Nizza ist, in der auffälligsten Weise, der erste Ort, der meinem Kopf (und sogar meinen Augen!) wohlthut; und ich ärgere mich, so spät zu dieser Einsicht gekommen zu sein. Was ich brauche, erstens, zweitens und drittens: das ist Heiterkeit des Himmels und Sonnenschein ohne jegliches Wölkchen, gar nicht zu reden von Scirocco, meinem Todfeinde. Nizza hat im Jahre durchschnittlich 210 solcher Tage, wie ich sie brauche: unter diesem Himmel will ich schon das Werk meines Lebens vorwärts bringen, das härteste und entsagungsreichste Werk, das sich ein Sterblicher außegen kann. — Ich habe Niemanden, der darum weiß: Niemanden, den ich stark genug wüßte, mir zu helfen. Es ist die Form meiner Menschlichkeit, über meine letzten Absichten hübsch schweigsam zu leben; und außerdem auch die Sache der Klugheit und Selbst-Erhaltung. Wer liefe nicht von mir davon! — wenn er dahinter käme, was für Pflichten aus meiner Denkweise wachsen. Auch Sie! Auch Sie, meine hochverehrte Freundin! — Diesen würde ich zerbrechen und Jenen verderben: lassen Sie mich nur in meiner Einsamkeit!!!
— Daß ich in den letzten Jahren jede Art von Niederträchtigkeit erlebt habe und daß beinahe Jedermann, meine Mutter und Schwester sehr eingerechnet, Hände voll Schmutz nach meinem Charakter geworfen haben, Dies rechne ich nicht zu hoch an: ob es gleich, weil es auf Ein Mal kam, mich beinahe um den Verstand gebracht hat. Es war zuletzt eine Eselei von mir, mich „unter die Menschen“ zu begeben: ich mußte es ja voraus wissen, was mir da begegnen werde.
Die Hauptsache aber ist die: ich habe Dinge auf meiner Seele, die hundert Mal schwerer zu tragen sind als la bêtise humaine. Es ist möglich, daß ich für alle kommenden Menschen ein Verhängniß, das Verhängniß bin — und es ist folglich sehr möglich, daß ich eines Tages stumm werde, aus Menschen-Liebe!!!
Ich blätterte dieser Tage einmal in Schopenhauer — ah, diese bêtise Allemande — was ich Das satt habe! Die verdirbt alle großen Dinge! Auch den „Pessimismus“! —
Haben Sie davon gehört, daß mein Zarathustra fertig ist? (in 3 Theilen — Sie kennen den ersten davon) Eine Vorhalle zu meiner Philosophie — für mich gebaut, mir Muth zu machen. Schweigen wir davon. — Ah, was ich jetzt Musik nöthig hätte! Was ich es bedaure, daß die Gräfin Dönhoff nicht hier ist! Ob schon je ein Mensch solchen Durst nach Musik gehabt hat? —
Bleiben wir tapfer und guter Dinge, ein Jeder auf seinen zwei Beinen! — Das Herzlichste und Beste für Sie und das geliebte edle Wesen, das zu meiner Freude jetzt bei Ihnen ist!
Ihr Freund Nietzsche.