1884, Briefe 479–567
526. An Franziska Nietzsche in Naumburg
10 August 1884, Sils-Maria
Gestern Abend, meine liebe Mutter, kam die Kiste aus Braunschweig, ich danke bestens für diese Besorgung — der Schinken ist delikat. — Gesundheit giebt manchen Anlaß zur Sorge; so viel Erschöpfung; früher konnte ich ganz anders gehen. Schmerz an der Stelle des Rückens, wo ich schief bin. Seit einigen Tagen plötzliche Verdunkelung des Augenlichtes, so daß ich alles Arbeiten eingestellt habe. — Sonst bewährt sich Sils, und es wird wohl fürderhin bei Sils und Nizza bleiben. Wäre damit das Clima bezeichnet, welches ich zum Leben nöthig habe, so muß doch noch Manches sich hinzufinden, wenn ich es länger aushalten soll — ich bin mit schweren, allerschwersten Aufgaben und Pflichten überbürdet. Vorigen Sommer habe ich das Zimmer tapeziren lassen, dies Mal denke ich an die Erwerbung eines Ofens. Es fehlt nicht an Menschen, mit denen ich reden kann, mit Turneysen-Merians zb. habe ich 3 Wochen zu Mittag gegessen. Eine Engländerin ist da, die früher an mich geschrieben hat. Eben nahm ein preußischer Beamter des Patent-Amts (aus dem Bismarckschen Dunstkreis) von mir Abschied — ganz ergriffen: (er sagte, „die Gespräche mit mir seien die bedeutungsvollste Episode seines geistigen Lebens“); Resa von Schirnhofer wird wohl noch kommen, wenigstens sind Briefe an sie bei mir eingetroffen. Du siehst, daß „der Einsiedler von Sils-Maria“ diesen Sommer besser daran ist als den vorigen, auch fehlt es nicht an guten Nachrichten, welche beweisen, daß die Verehrung, ja Ehrfurcht vor mir außerordentlich im Wachsen ist. Ich selber bin dem gegenüber in einer artigen boshaften Stimmung: das liegt wohl an dem Umstände, daß diese letzten Jahre meine wohlwollenden nachsichtigen vergebenden und versöhnlichen Instinkte gar zu stark in Anspruch genommen worden sind.
Da hast Du nun wieder einen geistigen Wetterbericht von Deinem Sohne; den nächsten bekommst Du wohl erst aus Nizza, wohin ich im September abziehe. (Ich soll dort, nach Prof. Schiess’ Urtheil, Seebäder gebrauchen.)
Mit herzlichem Gruß und Wunsche
Dein F.