1884, Briefe 479–567
514. An Heinrich von Stein in Berlin
Venezia, San Canciano, calle nuova 5256, am 22. Mai 1884.
Mein lieber Herr Doctor,
Diese Gedichte Giordano Bruno’s sind ein Geschenk, für welches ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Ich habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, wie als ob ich sie gemacht hätte und für mich — und sie als stärkende Tropfen „eingenommen“. Ja wenn Sie wüßten, wie selten noch etwas Stärkendes von Außen her zu mir kommt! Ich sprach vor zwei Jahren mit einer Art Ingrimm davon, daß ein Ereigniß wie der Parsifal ferne von mir, gerade von mir, vorübergehen mußte; und auch jetzt wieder, wo ich noch einen zweiten Grund weiß, um nach Bayreuth zu gehen — nämlich Sie, mein lieber Herr Doctor, der Sie zu meinen großen „Hoffnungen“ gehören — auch jetzt wieder habe ich Zweifel daran, ob ich hinkommen darf. Nämlich: das Gesetz, das über mir ist, meine Aufgabe, läßt mir keine Zeit dafür. Mein Sohn Zarathustra mag Ihnen verrathen haben, was sich in mir bewegt; und wenn ich Alles von mir erlange, was ich will, so werde ich mit dem Bewußtsein sterben, daß künftige Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun.
Verzeihung! — Es giebt so ernste Dinge, daß von ihnen zu reden man erst um Verzeihung bitten sollte. —
Zuletzt möchte ich doch erfahren, wann die Aufführungen sind, wann Sie selber nach Bayreuth kommen und ob Sie vielleicht geneigt wären, mich im Oberengadin (Sils-Maria) zu besuchen: — dort nämlich habe ich seit Jahren meine „Sommer-Residenz“ (eine Stube in einem Bauernhause)
Von Herzen Ihr
Nietzsche