1884, Briefe 479–567
495. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 22. März 1884>
Mein lieber Freund,
über Mailand habe ich ebenso sprechen hören wie Sie — es giebt „den Ton“ an. Und dies war schon der Fall zu Stendhal’s Zeiten. Wissen Sie, daß dieser nicht genug zu schätzende Mensch auf seinen Grabstein setzen ließ
„Arrigo Beyle Milanese“ so sehr glücklich hatte er sich in Mailand gefühlt, „neugeboren“! — Aber Sie sollten schlechterdings darauf bestehn, selber auch zu „dirigiren“! Bei allen neuen Stilen giebt es nur Einen, der ihn vorzutragen versteht; daran glaube ich gerade auch in Ihrem Falle! Übrigens warf mir der Zufall einen Aufsatz über Cimarosa’s M<atrimonio> S<egreto> zu: von Hanslick. Der scheint ganz gut zu wissen, was allen diesen großen Musik-Gewaltigen von Schumann an fehlt — einmal der „volle Sonnenschein“ und sodann der veritable „Buffo“ — —
Ich sagte Ihnen wohl schon in Leipzig: in Ihrer Musik ist „voriges Jahrhundert“ und das heißt für Menschen des neunzehnten Jahrhunderts beinahe so viel wie „Unschuld und Seligkeit“. Vor Allem aber Narrheit — und immer mehr scheint es mir, daß das Leben ohne Narrheit gar nicht auszuhalten ist.
Himmel! Was liegt mir jetzt alles auf dem Nacken!! Irgend ein Selbst-Erhaltungstrieb schreit jetzt förmlich nach Ihnen und Ihrer Kunst, Sie Erleichterer meines Daseins, dem ich jeden Tag ein Mal im Herzen Dank sage! —
Zuletzt ist in mir, neben Ihrem Mailänder Plane und durchaus nicht im Gegensatz dazu, noch einmal der Gedanke aufgestiegen, daß Ihr Werk, falls es der Königin Margherita gewidmet wäre, eine Art Eifersucht der Italiäner weniger erregen würde, die, bei der Erinnerung an ihren Cimarosa, ihnen sehr leicht kommen könnte. In diesem Jahrhundert des Nationalitäten-Wahnsinns! —
M. von Meysenbug und die Gräfin Dönhoff wünschen durchaus, daß ich nach Rom komme und ein paar Vorträge halte. Aber ich bin ferne davon. Doch könnte ich, in Bezug auf Sie, und wenn ich Ihnen damit diene, mich schon zu einer römischen Reise bestimmen.
Im Übrigen kamen gestern von Vallombrosa — Veilchen an mich hier an: zum Zeichen, wie weit auch dort die Natur ist (950 M.) Haben Sie keine Möglichkeit, mich etwas über Lanzky zu informiren (Jude? Und wer ist der Musiker Widmann?)
Beiläufig neben allem diesem „Beilaufenden“: hat Venedig eine gute Bibliothek auch für deutsche Bücher, namentlich Historie? —
Mein „Zarathustra“ kommt langsam, langsam vorwärts — wer weiß, ob nicht wieder ihm 500 000 Gesangbücher im Wege sind!
Sie werden auf den letzten Bogen noch einige Ueberraschungen haben. Der Teufel weiß! — nun, nachdem ich soweit mein Stillschweigen gebrochen habe, bin ich zu „mehr“ verpflichtet, zu irgend einer „Philosophie der Zukunft“ — eingerechnet „dionysische Tänze“ und „Narren-Bücher“ und anderes Teufelszeug. — Man muß noch weiterleben!!! Was denken Sie? —
Eigentlich hat Schopenhauer den Pessimismus verdorben —; er war zu eng für diese ganze prachtvolle Nein-sagerei. —
Mit hundert guten Wünschen
Ihr N.
(Arbeiten Sie nicht zu viel!)
Wann könnten Sie nach Mailand kommen? (Die Partitur braucht nicht fertig zu sein!) — Wichmann, nicht Widmann! sonst in Rom.