1884, Briefe 479–567
513. An Franz Overbeck in Basel
Venezia, 21 Mai 1884
Lieber Freund
mein letzter Brief hat Dich mehr als ich wünschte beunruhigt: ich schreibe überhaupt sehr thörichte Briefe. — Die Angelegenheit mit meinen Angehörigen muß ich mir vom Halse schaffen — ich habe nunmehr 2 Jahre lang mich in den gutmüthigsten Versuchen erschöpft, zurechtzulegen und zu beruhigen, aber umsonst. So viel ich die Geschichte kenne, ist übrigens diese Art von Mißverhältniß bei Menschen meines Ranges etwas Regelmäßiges. Schlimm genug, daß ich jetzt begreife — endlich! muß ich sagen — wie fast alle meine sonst noch bestehenden Verhältnisse an einem irreparablen Grundfehler leiden und absurd geworden sind. — Zuletzt aber liegt meine eigentliche Noth wo anders und nicht im Bewußtsein dieser Absurdität: eine Noth so groß und tief, daß ich immer frage, ob irgend ein Mensch schon so gelitten hat. Ja wer fühlt mir nach, was es heißt, mit jeder Faser seines Wesens fühlen, daß „die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen!“ Daß daraus mir im Handumdrehn auch jede leibliche Gefahr, Gefängniß und dergleichen, erwachsen kann, ist das Geringste daran; oder vielmehr, es würde mir wohlthun, wenn es erst so weit wäre. Ich will so Viel von mir, daß ich undankbar gegen das Beste bin, was ich schon gethan habe; und wenn ich es nicht so weit treibe, daß ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun, so habe ich in meinen Augen Nichts erreicht. Einstweilen — habe ich auch noch nicht einen einzigen Jünger.
Vorwärts! Reden wir von anderen Dingen.
Es war recht an der Zeit, daß ich nach Venedig gieng; denn unser maëstro ist schwer von der Stelle zu bringen und meint im Grunde, mit einigem Partituren-Schreiben sei Alles gethan. Er denkt über Aufführung und Aufführbarkeit kaum nach; und nachträglich sehe ich ein, was für eine wichtige Sache es war, daß ich ihn im vorletzten Herbste nach Leipzig rief — ob es schon zunächst den Anschein hatte, daß es umsonst gewesen sei. Aber es war nicht umsonst: im andern Falle hätte er noch 2 Jahre lang unmögliche Musik gemacht. Daß sein „Plan“ mit der Mailänder Firma Lucca ebenso unpraktisch war, wie sein Venediger, habe ich ihm sofort bewiesen: durch ein briefliches unbedingtes Nein! dieser Firma. Ebenso daß seine Musik überhaupt vor Italiänern einstweilen unmöglich ist, und überdieß deren Pietät gegen ihren Cimarosa verletzen würde. Kurz, es gab eine Revolution in allen möglichen Dingen, eingerechnet Text, Finale’s und viele Form-Fragen, die sich auf die Wirkung beziehn. Um das Ergebniß zusammenzufassen, so sieh Dir einmal diesen Theater-Zettel an
Der Löwe von Venedig.
Komische Oper in fünf Akten von Peter Gast.
Muthmaaßliche erste Aufführung in Dresden gegen Weihnachten. — Habe ich das nicht gut gemacht?
Übrigens steht Alles in der Hauptsache ausgezeichnet, ja zum Erstaunen gut: ich meine in Betreff der Entwicklung seiner Kräfte; und wenn er sich Schritt vor Schritt von den Überresten des kleinen Geschmacks, der sächsisch-chinesischen Hypertrophie von Gutmüthigkeit und dergleichen reinigt, so erleben wir noch das Entstehen einer neuen klassischen Musik, welche sich erlauben darf, die Geister griechischer Heroen heraufzubeschwören. Einstweilen hat er mit dem genannten Werke Venedig ein Denkmal gesetzt; und es ist möglich, daß 20 bezaubernde Melodien daraus einmal mit dem Wort und Begriff „Venedig“ zusammenwachsen werden. — Ich habe hier eine schöne Gelegenheit, meine aesthetische Moral zu predigen, und wahrhaftig nicht vor tauben Ohren! Man muß die große Sache R<ichard> W<agner>’s von seinen persönlichen, zu Principien umgewandelten Mängeln loslösen: in diesem Sinne will ich gerne Hand an sein Werk legen und nachträglich noch beweisen, daß wir nicht nur durch „Zufälle“ zusammengerathen sind. Dein Wort vom „mystischen Separatisten“ nehme ich mit Freuden auf: ich sagte kürzlich noch Köselitz, es gäbe keine „deutsche Cultur“ und habe nie eine gegeben — außer bei mystischen Einsiedlern, Beethoven und Goethe sehr eingerechnet! —
Dein und Euer Freund
Nietzsche