1884, Briefe 479–567
549. An Elisabeth Nietzsche in Straßburg
<Zürich> Mittwoch. <22. Oktober 1884>
Gestern, mein liebes Lama, war ein schöner Tag, und Dein Brief kam mitten unter lauter guten Dingen in meine Hände. Das Wetter von früh an strahlend in Nizza-hafter Herrlichkeit. Um 9 Uhr gieng ich in die Tonhalle und erlabte mich an Beethoven und Bizet. Dann meldete mir der deutsche Besitzer vom Hôtel des Etrangers in der ehrerbietigsten Form seine Freude, daß ich daran dächte, für den Winter in sein Haus zu kommen und garantirte die selben Bedingungen, wie bisher in Nizza. Dann kam Hegar und brachte die Köselitzische Partitur: er stellte sich für jeden Herbst mit seinem Orchester zur Verfügung und bot aus freien Stücken an, Herrn Peter Gast von jeder seiner eignen Orchester-Proben eine halbe Stunde abzutreten, wo K<öselitz> also das Orchester selber „in die Hand nehmen“ und seine Sachen einstudiren könne. Nach diesem Vorschlage brachte ich die inzwischen eingetroffne Bitte K<öselitz>’s vor, hierher zu H<egar> zu kommen, um in der nächsten Nähe eines Orchesters zu leben — kurz, es paßte Alles gut zusammen, und ich meine das Schicksal K<öselitz>’s mit diesem Züricher Aufenthalte vorwärts gebracht zu haben. — Nachmittags machte ich einen langen Spaziergang mit meiner neuen Freundin Helene Druscowicz, welche einige Häuser weit von der Pension Neptun mit ihrer Mutter wohnt: sie hat sich von allen mir bekannt gewordenen Frauenzimmern bei weitem am ernstesten mit meinen Büchern abgegeben, und nicht umsonst. Sieh einmal zu, wie Dir ihre letzten Schriften gefallen („drei englische Dichterinnen“, darunter die Elliot, welche sie sehr verehrt) und ein Buch über Shelley. Jetzt übersetzt sie den englischen Dichter Swinburne. Ich meine, es ist ein edles und rechtschaffnes Geschöpf, welches meiner „Philosophie“ keinen Schaden thut. Dann lies doch die Novellen meiner Berliner Verehrerin Frl. Glogau: man rühmt sie sehr von wegen „psychologischer Feinheit“. Abends war ich im ersten Tonhallen-Concert, wozu mich H<egar> eingeladen hatte: und so verbrachte ich mit der „Arlésienne“ noch den Abend des guten Tags und legte mich schlafen. Heute Morgen kam ein herzlicher und äußerst taktvoller Brief meines alten Freundes Overbeck an, welcher im Wesentlichen seine volle Freude ausdrückt, daß mir „ein solches Stück treuer und ursprünglicher Anhänglichkeit, wie ich es bei Mutter und Schwester habe“, nicht verloren gegangen ist. — Da ich Deine Reise-Adressen nicht hatte, so habe ich einen Brief an Dich nach Naumburg geschickt. Treulich Dein
F.
Es lebe die Unabhängigkeit! — so denke ich täglich. Nichts mit Heiratherei!
Meine Grüße an alle Verwandten, welche mir wohlgesinnt geblieben sind.