1884, Briefe 479–567
494. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 8. März 1884>
Anbei, mein lieber Freund Overbeck, ein Brief, der eine sehr gute Nachricht enthält. Wie lange habe ich auf diesen Entschluß unsres Musikers in Venedig gewartet! — und es war eine Sache von der Art, die Einem Stillschweigen außegt. Also — er will sich an die Spitze seiner „Truppen“ stellen, den Taktstock in der Hand! Ich schrieb ihm, er möge keinen Tag mehr verstreichen lassen und den Contract mit dem Impresario fertig und fest machen.
Der Anfang seines Briefes handelt von meinem Zarathustra, in einer Manier, die Dich eher beunruhigen als befriedigen wird. Himmel! wer weiß, was auf mir liegt und was für Stärke ich brauche, um es mit mir selber auszuhalten! Ich weiß nicht, wie ich gerade dazu komme — aber es ist möglich, daß mir zum ersten Male der Gedanke gekommen ist, der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Dieser Zarathustra ist nichts als eine Vorrede, Vorhalle — ich habe mir selber Muth machen müssen, da mir von überall her nur die Entmuthigung kam: Muth zum Tragen jenes Gedankens! Denn ich bin noch weit davon entfernt, ihn aussprechen und darstellen zu können. Ist er wahr oder vielmehr: wird er als wahr geglaubt — so ändert und dreht sich Alles, und alle bisherigen Werthe sind entwerthet. —
Von diesem Sachverhalt hat Köselitz eine Ahnung, einen Vor-Geruch. Ich schreibe dies zu seiner Entschuldigung. — —
Im Übrigen: es gab wieder für mich Erlebnisse zum Ersticken (ich deutete es im letzten Briefe an), aber ich bin drüber hinweg.
Meine herzlichsten Grüße!
Dein N.
N.B. Es bleibt dabei, daß ich einen Ceremonienmeister (eine Art Schutzmann) nunmehr nöthig habe. Im andern Falle muß ich die absolute Einsamkeit wählen.