1884, Briefe 479–567
500. An Resa von Schirnhofer in Genua
<Nizza, 31. März 1884>
Kommen Sie nur, mein verehrtes Fräulein! Und versuchen Sie es mit dem Hause, in dem ich jetzt wohne. — Sie werden es zutrauenswürdig und schweizerisch-brav finden. Es ist allmählich ziemlich leer geworden, die Winter-Vögel fliegen davon.
In Bezug auf mich selber haben Sie den günstigsten Zeitpunkt getroffen. Gestern wurde der letzte Correctur-Bogen meines letzten Theils „Zarathustra“ fortgeschickt — nun bin ich frei, freier vielleicht als ich je war, und zu jedem „otium cum dignitate“ äußerst bereit.
Also — ich werde Ihnen Nizza zeigen und auch, so gut es gehen will, mich selber, da Sie denn durchaus den alten Einsiedler „kennen lernen“ wollen. Indessen! Jeder Einsiedler hat seine Höhle, nämlich in sich, und manchmal hinter der Höhle noch eine Höhle und noch eine — ich wollte sagen, es ist schwer, einen Einsiedler kennen zu lernen.
Nehmen wir an, daß Sie am 3ten April mit dem Morgen-Schnellzug von Genua abfahren: so sind Sie gegen Mittag in Nizza und finden mich am Bahnhofe, bereit Ihnen zu dienen und erkennbar an einem großen Schnurrbarte und an einem Briefe, den ich in der Hand halte.
Dies mag als abgemacht gelten. Nur für den Fall, daß es Ihnen nicht passen will, würde ich mir noch eine Zeile vorher ausbitten.
Bitte, seien Sie freundlich und fragen Sie vor Ihrer Abreise noch einmal auf der Post in Genua nach poste-restante-Briefen für mich! Diese alte Columbus-Stadt ist eine Art Heimat für mich gewesen: es macht mir Freude, Sie dort zu wissen.
Ihr ergebenster Dr. Fr. Nietzsche