1884, Briefe 479–567
493. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 5. März 1884>
Lieber Freund, Das ist ja eine herrliche Neuigkeit, dieser Entschluß, den Sie mir melden — eine so naturgemäße Lösung Ihres Venetianerthums! Ich merke jetzt erst, wie es mich im Grunde beunruhigt hat, daß Sie nicht an der Spitze Ihrer Truppen marschiren wollten — ich meine mit dem Taktstock in der Hand! Vor Allem wünschte ich nun, daß der Contrakt mit dem Impresario sogleich gemacht werde, und kein Tag mehr dazwischen trete: das Fertigwerden der Partitur ist ja dazu durchaus nicht nöthig!
Mit diesem Projekte haben Sie einen Köder nach mir geworfen, dem ich alter Musik-Karpfen nicht ausweichen kann: ja, ich komme dazu nach Venedig, und schon zu den Proben, falls Sie mir dies erlauben werden. Niemals in meinem Leben habe ich Musik so nöthig gehabt wie in diesem Jahre —: schließlich kommt Alles zur rechten Zeit! Ich, für meinen Theil, bin genau im vierzigsten Jahre an den Punkt gelangt, an welchen für dies Jahr zu gelangen ich mir in den 20ger Jahren vorsetzte. Eine hübsche lange und sehr schauderhafte Seefahrt! —
Nun aber, da ich im Hafen bin, Musik! Musik! —
Meine Gesundheit war noch nie so gut wie vom 1. Januar ab. Natürlich war ich seitdem auch eine ganze Reihe von Tagen krank: und zwar, ausnahmslos, sobald der Himmel bedeckt war!
Ich halte es nun für ausgemacht, daß mein Kopfleiden ausschließlich mit reinem Himmel zu kuriren ist. —
Verzeihung, daß ich davon rede, es ist nur um mich zu rechtfertigen, wenn ich noch etwas länger hier bleibe: — länger als ein paar Wochen aber schwerlich! —
Und dann? — Ich weiß nicht, was. Ich bin sehr angelegentlich nach Vallombrosa eingeladen, von einem Herrn Paul Lansky, der Mitbesitzer des dortigen Hôtels ist und sich mir gewissermaßen zu Gebote gestellt hat. Er ist unabhängig, mehr Pessimist noch als Skeptiker, mir sehr zugethan (er schreibt an mich „Verehrter Meister“ — was mir kuriose Empfindungen und Erinnerungen giebt), und vom Herbst ab will er gehn, wohin ich will. Er hat mir Bilder und meteorologische Tabellen über V<allombrosa> geschickt (950 Meter hoch, Tannenwald) Wenn ich will soll ich im „Paradisino“ wohnen, allein, (dort wo der heilige Gualterus selber gelebt hat.) —
Die Wahrheit zu sagen — ich wäre zehn Mal lieber bei Ihnen. Und wenn ich komme, nicht wahr, da suchen Sie mir einmal ein Zimmer am Canale grande? — daß ich in die ganze lange bunte Stille vom Fenster aus hinausschauen kann? Außer Capri hat im Süden Nichts mir einen solchen Eindruck gemacht wie Ihr Venedig. Ich rechne es nicht zu Italien: irgend was vom Orient ist da hinuntergefallen. —
Schließlich! Schließlich — ich habe Musik nöthig und Ihre Musik! Ich muß eine Kur machen — —
Sie sehen, wie sich die Gedanken bei mir, mit Paulus zu reden, „verklagen und entschuldigen“. Ich ärgere mich, daß ich nicht bei Ihnen bin.
Treulich Ihr Nietzsche