1884, Briefe 479–567
509. An Malwida von Meysenbug in Rom
Venezia, San Canciano, calle nuova 5256<Anfang Mai 1884>
Inzwischen, meine hochverehrte Freundin, sind hoffentlich die beiden letzten Theile meines Zarathustra in Ihre Hände gelangt: zum Mindesten habe ich lange schon meinem Verleger den Auftrag dazu gegeben. Das ist kein Geschenk, für das man so ohne Weiteres zu danken hätte — ich verlange ein Umlernen in Betreff der liebsten und verehrtesten Empfindungen, und viel Mehr als ein Umlernen noch! Wer weiß wie viele Generationen erst vorüber gehen müssen, um einige Menschen hervorzubringen, die es in seiner ganzen Tiefe nachfühlen, was ich gethan habe! Und dann selbst noch macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden. Aber das ist die Qual jedes großen Lehrers der Menschheit: er weiß, daß er, unter Umständen und Unfällen, der Menschheit zum Verhängniß werden kann, so gut als zum Segen.
Nun, ich selber will Alles thun, um zum Mindesten keinem allzugroben Mißverständniß Vorschub zu leisten; und jetzt, nachdem ich mir diese Vorhalle meiner Philosophie gebaut habe, muß ich die Hand wieder anlegen und nicht müde werden, bis auch der Haupt-Bau fertig vor mir steht. Menschen, die nur die Sprache der Ambition verstehen, mögen mir nachsagen, daß ich nach der höchsten Krone griffe, welche die Menschheit zu vergeben hat. Wohlan! —
Aber diese Einsamkeit, und von Kindesbeinen an! Diese Verschlossenheit im vertrautesten Verkehre noch! Es ist mir gar nicht mehr beizukommen, auch mit Wohlthun nicht mehr.
Kürzlich, als ich in Nizza den Besuch von Frl. Schirnhofer hatte, dachte ich oft Ihrer mit großer Dankbarkeit, denn ich errieth, daß Sie mir damit wohlthun wollten: und wirklich, es war ein Besuch zur rechten Zeit, der heiter und nützlich ablief (zumal keine störende eingebildete Gans zugegen war — Pardon! ich meinte meine Schwester). In der Hauptsache aber glaube ich nicht, daß es einen Menschen geben könne, der mich über dies eingewurzelte Gefühl des Alleinseins hinwegbrächte. Ich fand noch Niemanden, vor dem ich reden könnte, wie ich mit mir selber rede. — Verzeihung für diese Art von Selbst-Bekenntniß, meine verehrte Freundin!
Zweierlei möchte ich gerne genau noch wissen; erstens, wo Sie diesen Sommer sind. Zweitens brauche ich die Adresse von Liszt, seine römische Adresse (nicht für mich).
Ich ärgere mich über jenen inhumanen Brief, den ich im vorigen Sommer Ihnen schickte; ich war durch diese unsäglich widrige Aufhetzerei geradezu krank gemacht worden. Inzwischen ist die Lage dahin verändert, daß ich mit meiner Schwester radical gebrochen habe: denken Sie um des Himmels willen nicht daran, da vermitteln und versöhnen zu wollen — zwischen einer rachsüchtigen antisemitischen Gans und mir giebt es keine Versöhnung. Im Übrigen wende ich jeden Grad von Schonung an, weil ich weiß, was sich zur Entschuldigung meiner Schwester sagen läßt und was im Hintergrunde ihres für mich so schmählichen und unwürdigen Verhaltens steht: — die Liebe. Es ist durchaus nöthig, daß sie möglichst bald nach Paraguay absegelt —. Später, sehr viel später wird sie von selber zur Einsicht kommen, wie sehr sie mit diesen unausgesetzten schmutzigen Verdächtigungen meines Charakters (die Geschichte dauert nun 2 Jahre!) mir in der entscheidendsten Epoche meines Lebens geschadet hat. Zuletzt bleibt mir die sehr unbequeme Aufgabe übrig, einigermaßen an Dr. Rée und Frl. Salomé gut zu machen, was meine Schwester schlimm gemacht hat (von Frl. S. soll nächstens ihr erstes Buch erscheinen: „über den religiösen Affect“ — das selbe Thema, für welches ich ihre außerordentliche Begabung und Erfahrung in Tautenburg entdeckte — es macht mich glücklich, nicht ganz umsonst mich damals so bemüht zu haben.) Meine Schwester reducirt ein so reiches und originales Geschöpf auf „Lüge und Sinnlichkeit“ — sie sieht in Dr. Rée und ihr nichts weiter als 2 „Lumpen“; — dagegen empört sich nun freilich mein Gerechtigkeits-Gefühl, so gute Gründe ich auch habe, mich von Beiden für tief beleidigt zu halten. Es war mir sehr lehrreich, daß meine Schwester zuletzt gegen mich selber genau so blind-verdächtigend gehandelt hat, wie gegen Frl. S.; ich brachte mir da erst zum Bewußtsein, daß alles Schlimme, was ich von Frl. S. geglaubt habe, auf jenes Gezänk zurückgeht, das vor meiner näheren Bekanntschaft mit Frl. S. liegt: wie viel mag da meine Schwester falsch verstanden und hinzugehört haben! Es fehlt ihr alle und jede Menschenkenntniß; der Himmel bewahre sie davor, daß nicht einmal einer der Feinde des Dr. Förster über diesen vor ihr beredt wird!
Nochmals um Verzeihung bittend, daß ich diese alte Geschichte wieder zur Sprache brachte! Es ist nur, um Ihnen zu sagen, daß Sie sich ja nicht in Ihrem eigenen Gefühle durch jenen abscheulichen Brief beeinflussen lassen mögen, den ich Ihnen vorigen Sommer schrieb. Außerordentliche Menschen, wie Frl. Salomé, verdienen, zumal in solcher Jugend, jeden Grad von Nachsicht und Mitleiden. Und wenn ich auch, aus verschiedenen Gründen, noch nicht im Stande bin, eine neue Annäherung von ihr an mich zu wünschen, so will ich doch, für den Fall, daß ihre Lage sich schlimm und verzweifelt gestaltet, von allen eigenen persönlichen Rücksichten absehen. Ich verstehe jetzt nur zu gut, durch eine vielfache Erfahrung, wie leicht mein eigenes Leben und Schicksal genau in den gleichen Verruf kommen könnte, wie das ihrige — verdient und unverdient, wie es immer bei solchen Naturen der Fall zu sein pflegt. —
Von Herzen Ihnen ergeben
und dankbar
Nietzsche.