1884, Briefe 479–567
522. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils-Maria (Ober-Engadin) <, 25. Juli 1884>
Lieber Freund,
Ihr Brief giebt mir in äußerst angenehmer Manier die regulativen Begriffe, mit denen ich meine Erfahrungen der letzten Zeit zusammenfassen kann. Ich bin nämlich lange unterwegs gewesen und habe viele sogenannte „alte Bekannte“ (ich sollte sagen: als „neue Unbekannte“); aufgesucht und gesprochen. Das war eine Thorheit, die mich in jeder Hinsicht gelangweilt und erschöpft hat; dazu kam, daß der Sommer heiß war und daß ich immer in Gegenden lebte, deren Clima mir nachtheilig ist. Endlich in Sils-Maria! Endlich Rückkehr zur — Vernunft! Inzwischen nämlich gieng es um mich zu unvernünftig zu (ich war wie unter Kühen); aber daß ich mich so lange in diesen Niederungen und Kuhställen aufhielt, war selber die größte Unvernunft. Wer Distractionen nöthig hat, wie sie unser-Einer hier und da nöthig hat, Gelegenheit zu lachen, boshafte Menschen und Bücher — der soll nur irgend wo anders hin gehn, aber nicht nach Basel et hoc genus omne.
Das Spaaßhafteste, was ich erlebte war J<acob> Burckhardts Verlegenheit, mir etwas über den Zarathustra sagen zu müssen: er brachte nichts Anderes heraus als — „ob ich es nicht auch einmal mit dem Drama versuchen wolle“. —
In summa: es wird wohl bei Sils und Nizza verbleiben, kürzere Zwischen-Aufenthalte abgerechnet (so ist vorläufig ein Ausflug nach Corsica für nächsten Frühling von Nizza aus verabredet, nämlich von Resa von Schirnhofer und mir — vivat tertius!) Auch sollten wir, mein geliebter Freund, uns hier, im heiligen Sils, der Ursprungsstätte des Zarathustrismus, für nächsten Sommer wiederzusehen versprechen! Haben Sie Lust dazu? Ein landschaftlicher Umblick in der Schweiz hat mich von Neuem belehrt, daß Sils-Maria nicht seines Gleichen in der Schweiz hat: wunderliche Mischung des Milden, Großartigen und Geheimnißvollen! —
Was fehlt mir doch? Daß ich Ihre Musik nicht hören kann, daß ich gar nicht weiß, wann und wie ich sie wieder zu hören bekomme! Ach die glücklichen Dresdener! Meine Tischnachbarin, eine Lievländerin, die in Dresden lebt, erregt meine Eifersucht. An Frau Rothpletz schrieb ich ad vocem „Einsamkeit“ einen Brief und sagte ihr wie wäre denn jetzt — jetzt! — solche Musik wie die Ihre noch möglich, wenn nicht die Erfindung der Einsamkeit gemacht worden wäre! Eingerechnet die Einsamkeit zu Zweien, wie die unsre in Venedig, für die ich Ihnen von ganzem Herzen Dank sage!
Treulich Ihr N.
Ihren verehrlichen Eltern mich bestens empfehlend. N.