1884, Briefe 479–567
486. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 6. Februar 1884>
Mein lieber alter Freund,
ich höre mit Betrübniß vom „Gedärme“ und was damit zusammenhängt; es ist der böse Monat, wo man im Norden zum Bewußtsein gebracht wird, daß man den Winter wie eine Schuld zu büßen hat. Ach, und was hat man jetzt im Norden nicht zu „büßen“! Umgebung, Bestrebungen, Vereinsamung — im Grunde ist alles Winter daselbst und wirkt zuletzt aufs „Gedärme“. — Um so mehr bewegt mich Dein Wort „innerlicher Jubel“. Ach, Freund, wer freut sich denn noch, daß ich „über meinen Berg“ bin! Ein Einsiedler in Venedig und Einer in Vallombrosa noch (letzterer leider auch unter vieler Noth des Gedärmes!)
— Was die deutschen Zustände betrifft, so mag wohl Dein Rath an mich, den ich aus Deinen Worten herauslese, der richtige sein: „man soll den Sumpf nicht aufrühren“. Mit was für häßlichen und im Grunde ephemeren Dingen müßte ich mich bekannt machen! Im Grunde ist es die Auszeichnung meiner Position, daß ich von so Vielem nicht weiß und nicht zu wissen brauche (z. B. der Name „Nordau“ ist mir unbekannt). In der That, wir wollen warten und auch unsre Feindschaft in’s Große treiben. —
Eine „Erholung“ übrigens habe ich nöthig, und, wenn es keine kriegerische ist, so muß es eine tüchtige Muskel-Übung sein — Fußmärsche und dergleichen. —
Vielleicht durchlaufe ich einmal die riviera bis nach St. Raphael hin; bisjetzt betrachte ich das Clima von Nizza als das einzig für mich passende; Genua war ein großer Mißgriff, und St. Margherita ein — lebensgefährlicher. — Andrerseits ist mir Nizza zuwider, als Abklatsch von Paris und großthuerische Halb-Großstadt; es fehlt Wald, Schatten, Stille in einem kaum glaublichen Maße. Wäre ich vermögend, so würde ich schon anderswo an der riviera leben; aber verhältnißmäßig lebe ich hier natürlich am billigsten, weil es die größte Stadt ist.
Lieber Freund, es hilft nichts, wir müssen die letzten 500 frs. von der Handwerker-Bank zurücknehmen. Ich habe jetzt Geld nöthig. Aber ich will mich dies Jahr über nichts ärgern: ob es schon Gründe gäbe. —
Es wird bereits gedruckt, falls Schmeitzner seine Schuldigkeit gethan hat. — Übrigens ist der ganze Zarathustra eine Explosion von Kräften, die Jahrzehende lang sich aufgehäuft haben: bei solchen Explosionen kann der Urheber leicht selber mit in die Luft gehen. Mir ist öfter so zu Muthe: — das will ich Dir nicht verbergen. Und ich weiß im Voraus: wenn Du aus dem Finale ersehen wirst, was mit der ganzen Symphonie eigentlich gesagt werden soll (— sehr artistisch und schrittweise, wie man etwa einen Thurm baut), — so wirst auch Du, mein alter treuer Freund, einen heillosen Schrecken und Schauder nicht überwinden können. Du hast einen äußerst gefährlichen Freund; und das Schlimmste an ihm ist, wie sehr er zurückhalten kann. Wie gerne möchte ich mit Dir und Deiner lieben verehrungswürdigen Frau zusammen lachen (mich über mich selber todtlachen!!!)
Von Herzen
Dein Nietzsche.