1884, Briefe 479–567
547. An Elisabeth Nietzsche in Straßburg
<Zürich, 19. Oktober 1884>
Mein liebes Lama
schließlich muß ich, um Dich noch auf Deiner Wanderschaft zu erreichen, ein Briefchen nach Naumburg adressiren. — Es ist mir öfter zu Muthe gewesen, als ob ich Dir, bei unserm Zusammensein in Zürich, nicht ausreichend meine Liebe bezeugt hätte. Man verlernt Das, wenn man so allein lebt wie ich. — Inzwischen gieng es erträglich, nur Einen Tag war ich krank und zwar wieder allein aus klimatischen Gründen. — Ich bin, mit Hülfe der Bibliothek, jetzt arbeitsam; doch sage ich mir jeden Tag von Neuem, daß alles Dies nur Zwischenakt und Erholung ist: — wenn „der Geist über mich kommt“, muß ich hundert Mal einsamer und „unzerstreuter“ sein als ich hier sein kann (dann sind mir vielleicht die dummen Pensions-Heerdenthiere gar nicht so unzuträglich, ja vielleicht wohlthätiger als jede Art von näherer Menschheit) NB! —
Während wir zusammen zur Bahn fuhren, meldete Hegar, daß denselben Morgen die Ouvertüre geprobt werde. Dies ergab zur Folge, daß wir Beide darum kamen, denn ich kehrte erst Mittag in den Neptun zurück. Gestern fand eine zweimalige Vorführung dieser Ouvertüre statt, zu meiner freudigsten Genugthuung — sie klang prachtvoll (H<egar> hatte schon einige Tage vorher seinen ersten Eindruck zurückgenommen und als „Irrthum“ bezeichnet — er ist ersichtlich warm geworden, wie ich es vermuthete.) Gestern bezahlte ich die Noten-Abschriften — eine Sache von nicht mehr als — 21 frs. Komisch! Man kann sein Geld nicht besser anlegen. — Köselitz denkt, nach der letzten Karte, daran, nach Zürich überzusiedeln — ich soll bei Hegar anfragen. —
Am Tage Deiner Abreise gieng Frl. Müller durch resp. sie siedelte zu ihrem Studenten über, mit einem entliehenen Hut, Shawl und — meinen Noten! Sollte man’s glauben? Vier Tage war ich in „schwebender Pein“, endlich übte ich eine sonderbare Pression aus, indem ich Beschlag auf einen Brief legte — und erhielt meine Noten zurück. — Die alte Frau Müller erzählte mir gestern genug von der ganzen Geschichte, oder vielmehr viel zu viel: viel Unflätherei. —
Herzlichsten Dank für Deinen Brief zum Geburtstag; und wie viel hast Du mir dies Mal geschenkt! Alle Tage gar nichts Anderes als immer schenken! Es war ein recht wohl gerathner Herbst bisher. Meinen allerschönsten Dank!
Dein F.