1884, Briefe 479–567
528. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. 1. Sept. 1884.
Liebe verehrte Freundin,
um gleich die Hauptsache zu sagen: es ist ein Jammer, wenn wir Beide, zwei Menschen, welche sich lieb haben, nicht zusammenleben — und nun kommen die für mich ganz fatalistischen Gründe des Clima’s und zwingen mich, meine Winter fürderhin in Nizza und nicht in Rom zuzubringen! Erwägen Sie doch einmal, ob die unglaublich belebende und stärkende Luft Nizza’s, die stärkste Luft Europa’s (nächst der vielleicht von Sils-Maria) Ihnen nicht auch gut thun müßte, wie sie mir gut thut: eingerechnet die Wirkung von 220 absolut hellen Sonnen-Tagen im Jahr, für mich etwas ganz Entscheidendes. (Rom hat 100 Tage weniger) Ich für meinen Theil wünsche mir gerade Ihre Nähe, wie ich mir reinen Himmel wünsche: womit Ihnen Alles gesagt sein muß, vorausgesetzt, daß Sie auf meinen Sohn Zarathustra hingehört haben. Und wie werthvoll wäre uns ein Zusammensein namentlich an den Abenden, wo wir beide nicht lesen und schreiben dürfen, und wo wir uns so Viel zu erzählen hätten!
Ich bin einstweilen gesonnen, gegen Anfang Oktober nach Nizza zu gehen und wieder in meine gute schweizerische Pension „Hôtel de Genève“ — und Seebäder zu gebrauchen, wie mir verordnet ist. Bis dahin Sils.
Stein war 3 Tage hier: das ist ein Mann nach meinem Herzen! Er hat mir aus freien Stücken versprochen, so bald er frei wird d.h. so bald sein Vater nicht mehr lebt, dem zu Liebe er es im Norden aushält, zu mir nach Nizza überzusiedeln.
Auch die gute Resa Schirnhofer war da, mit einer ihrer Züricher Freundinnen. Schade, daß sie, um Baslerisch zu reden, so „unanmüethig“ aussieht! Ich kann das Häßliche in meiner Nähe nicht lange aushalten (ich meinte schon in Bezug auf Frl. Salomé einige Selbst-Überwindung darin nöthig zu haben)
Nun erwägen Sie, meine verehrteste Freundin, sich, mich, Ihre Gesundheit — man kann in Nizza mindestens so billig leben als in Rom, und wie ich wenigstens urtheile, drei Mal so produktiv.
Von ganzem Herzen
Ihr
Nietzsche.
Umwenden!
Fast vergaß ichs — ad vocem „Propaganda-machen“ in Ihrem vorletzten Briefe, woraufhin ich mir heute eine kleine Rache erlaube — —
Miß Helen Zimmern (es ist dieselbe welche den Engländern mit gutem Erfolge Schopenhauer vorgeführt hat) schreibt an mich „ich möchte Sie nochmals daran erinnern, doch Ihre Freundin, die Verfasserin der Memoiren einer Idealistin zu bitten, mir ihre sämmtlichen Werke zukommen zu lassen. Es würde mir sicherlich Freude machen, wenn ich dieselben in England durch einen Aufsatz bekannt machen könnte, und ich glaube, daß ich diesen Winter Zeit finden könnte, mich mit denselben zu beschäftigen. “
Ich hatte Miss Zimmern in Ihrer Hinsicht einen Wink gegeben, bei einer Unterredung hier in Sils-Maria: ihre Adresse ist London, 7, Tyndale Terrace Canonbury Square