1884, Briefe 479–567
551. An Franz Overbeck in Basel
<Zürich, gegen Ende Oktober 1884>Adresse: Mentone, France / post restante.
Lieber Freund Overbeck,
in den nächsten Tagen geht es fort, südwärts; mit dem Züricher Herbste, der ausnehmend schön gerathen ist, hat es nunmehr (wie es scheint —) sein Ende — es war gestern schauerlich trübe und drückend. Im Grunde bin ich herzlich zufrieden, hierher gekommen zu sein — endlich gab es wieder einmal ein Aufathmen von dem ungeheuren Drucke meiner Aufgabe, und folglich ein neues Kräfte-sammeln: so daß ich entschlossener als je dies Mal an den Winter herangehe. Ich hatte Viel hier zu thun und durchzusetzen, namentlich als ich begriff, daß es vor der Hand nothwendig sei, Herrn Peter Gast hier einzurichten, in der Nähe eines guten Orchesters und abseits von seinen Verwandten, die ihm den Muth nehmen. Mit Dresden ist es mißrathen, ich ärgere mich, daß ich nicht an K<öselitzen>s Stelle im Frühjahre hingereist bin. Die Stellung eines Künstlers, der, ein Kleinod in den Händen, wie ein Bettler sich herumdrücken muß, um zu bewirken, daß man’s annimmt, ist gar zu absurd. Es ist die Aufgabe seiner Freunde, ihm das zu ersparen. (Seine Ouvertüre klingt übrigens über Erwarten prachtvoll.) — Er wohnt artig und geräumig hierselbst im kleinen Sonnenhof (wo auch die treffliche Druscowicz mit ihrer Mutter lebt) und ißt zusammen zu seiner Erheiterung mit Studentinnen und dergleichen, darunter Frl. Willdenow, die mich den Sommer im Engadin besucht hat. Hegar äußerst entgegenkommend, ebenso Freund. Auch gegen Gottfried Keller fühle ich mich sehr verpflichtet. Frau Banquier Köckert aus Genf ist seit einigen Wochen hier und immer noch mir sehr zugethan.
Was Schmeitzner angeht, so lies, ich bitte Dich, den beiliegenden Brief, seine Antwort auf den von Dir gebilligten Brief. Ich — weiß nichts zu thun. —
Dr. Fuchs hat mir selber seine zwei Hefte zugeschickt — derartigen Ausbrüchen höherer Philologie halte ich gern das Ohr offen, doch bin ich, eben als alter Philologe, zehnmal skeptischer gegen das Riemannsche Problem als Fuchs und lache im Stillen, wie oft hier der Feuereifer des Künstlers F<uchs> mit dem Philologen Fuchs durchgeht. Das Verdienst wird die Feststellung einer unbewußten allgemeinen artistischen Blödsinnigkeit sein. Aber wo stünde es nicht ähnlich! Wer z. B. wäre jetzt im Stande, meinen Zarath<ustra> richtig zu „phrasiren.“!! —
Das Erquicklichste in diesem Herbste war mir der Eindruck meiner Schwester, sie hat sich die Erlebnisse dieser Jahre tüchtig hinter die Ohren und in’s Herz geschrieben und, was ich an jedem Menschen besonders ehre, ohne alle Rancünen.
So die alte ungeschmälerte Herzlichkeit wieder zu finden hatte ich nicht erwartet und vielleicht nicht einmal verdient. Dir und Deiner lieben Frau dankbar zugethan
Dein Freund N.