1884, Briefe 479–567
533. An Franz Overbeck in München
Sils-Maria, 14 Sept. 1884.
Lieber Freund, herzlichen Dank voraus!
Im Ganzen sind alle Dinge diesen Sommer bei mir von der Stelle gekommen, und der Hauptzweck ist erreicht worden, freilich sehr auf Unkosten der Gesundheit: namentlich ist eine plötzliche auffallende Verdunkelung der Augen hinzugekommen, die mich nöthigt, mit Schiess zu correspondiren. Die Gesammt-Depression, an der ich leider bei unserm Zusammensein in Basel litt, ist aber gehoben; ich glaube jetzt, daß ich die Differenz mit meinen Angehörigen hundert Mal zu schwer genommen habe. Es genügte schon der Vorschlag zu einem Rendezvous mit meiner Schwester, um vergnügte Gesichter zu machen. Das ist nun mein ewig wiederholter Fehlgriff, daß ich mir fremdes Leid viel zu groß vorstelle. Von meiner Kindheit an hat sich der Satz „im Mitleiden liegen meine größten Gefahren“ immer wieder bestätigt (vielleicht die böse Consequenz der außerordentlichen Natur meines Vaters, den Alle, die ihn kannten, mehr zu den „Engeln“ als zu den „Menschen“ gerechnet haben) Genug, daß ich durch die schlimmen Erfahrungen, die ich mit dem Mitleiden gemacht habe, zu einer theoretisch sehr interessanten Veränderung in der Werthschätzung des Mitleidens angeregt worden bin.
Das Erlebniß des Sommers war der Besuch Baron Stein’s (er kam direkt aus Deutschland für 3 Tage nach Sils und reiste direkt wieder zu seinem Vater — eine Manier, in einen Besuch Accent zu legen, die mir imponirt hat) Das ist ein prachtvolles Stück Mensch und Mann und mir wegen seiner heroischen Grundstimmung durch und durch verständlich und sympathisch. Endlich, endlich ein neuer Mensch, der zu mir gehört und instinktiv vor mir Ehrfurcht hat! Zwar einstweilen noch trop wagnetisé, aber durch die rationale Zucht, die er in der Nähe Dührings erhalten hat, doch sehr zu mir vorbereitet! In seiner Nähe empfand ich fortwährend auf das Schärfste, welche praktische Aufgabe zu meiner Lebens-Aufgabe gehört, wenn ich nur erst genug jüngere Menschen einer ganz bestimmten Qualität besitze! — einstweilen ist es noch unmöglich, davon zu reden, wie ich denn auch noch zu keinem Menschen davon geredet habe. Welch sonderbares Schicksal, 40 Jahr alt werden und alle seine wesentlichsten Dinge, theoretische wie praktische, als Geheimnisse mit sich noch herumschleppen! — Vom Zarathustra sagte Stein ganz aufrichtig, er habe „zwölf Sätze und nicht mehr“ davon verstanden: was mich sehr stolz gemacht hat, denn es charakterisirt die unsägliche Fremdheit aller meiner Probleme und Lichter (zufällig brachte der Sommer mir mehrmals dasselbe Zeugniß in Betreff der Morgenröthe und fröhlichen Wissenschaft „die fremdartigsten Bücher, die es giebt“).
Dagegen ist Stein Dichter genug, um z.B. von dem „anderen Tanzlied“ (dritter Theil) aufs Tiefste ergriffen zu sein (er hatte es auswendig gelernt) Wer nämlich gerade bei den Heiterkeiten Zarathustra’s nicht Thränen vergießen muß, der gilt mir als noch ganz fern von meiner Welt, von mir.
Stein hat mir aus freien Stücken versprochen, zu mir nach Nizza überzusiedeln, sobald sein Vater nicht mehr lebt: dem zu Liebe er es im Norden und an einer deutschen Universität aushält.
Daniella v. Bülow hat mir durch ihn sagen lassen, daß sie ihre Verlobung aufgelöst habe und jetzt, zur Stärkung, meine Schrift „Schopenhauer als Erzieher“ lese.
Köselitzens Schicksal macht mir viel Sorge. Mit der früheren Unabhängigkeit scheint es vorbei zu sein, es steht nicht gut mit der Färberei seines Vaters, er wird schwerlich wieder von Hause fortkönnen, solange er nicht Erfolge hat. Was diese betrifft, so ist der jetzt herrschende Wagnerismus ihm durchaus nicht schädlich, im Gegentheil: vorbereitend, wie ich selber es persönlichst erlebt habe — die zartesten und sublimsten Zustände haben noch nie vor Wagner so geleuchtet, und erst nachdem man durch ihn Augen für diese Lichter und Farben bekommen hat, weiß man, wohin die Kunst unsres Venediger Maestro will und muß — — Seine Gegnerschaft liegt vielmehr im deutschen bewußten oder unbewußten Obscurantismus und Sentimentalismus, in den zweiten-Aufguß-Brühen, wie sie z.B. Brahms servirt, und in summa in der deutschen Mittelmäßigkeit des bürgerlichen Geistes, welcher allem Südländischen gegenüber sich argwöhnisch-reizbar verhält und „Frivolität“ wittert. Es ist derselbe Gegensatz, den meine Philosophie zu spüren bekommt — man haßt an mir und an Köselitzens Musik den hellen Himmel.
Ein Italiäner sagte kürzlich „gegen das, was wir Himmel cielo nennen, ist der deutsche Himmel una carricatura.“
Bravo! da steckt meine ganze Philosophie! —
Von Herzen grüßend und Dir sammt den Deinen das Beste wünschend
Dein Freund N.
Es geht in den nächsten Tagen fort, muthmaaßlich nach Nizza. Adresse jedenfalls: Nizza poste restante.
„Der Kampf um Gott“ Roman von H. Lou (Stuttgart, Auerbach) — Stein sprach davon. —