1874, Briefe 339–411
403. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 15. November 1874>
Liebster Freund, ich bin so bis über die Ohren im Wintersemester drin, dass ich nach allem Guten in der Nähe und Ferne nur noch blinzeln darf d. h. in unserem Falle, ganz kleine Briefchen schreiben und wie ich fürchte nicht einmal oft. Erstens giebt es Litteraturgesch., sodann Rhetorik des Aristot., alles neu und schwer, dann Seminar, und Schule, kurz ich habe den Tag und die Woche in Stunden zerschnitten, und lebe nach diesem Stundenplane peinlichst, sonst wird nichts draus. — Mit den Augen erträgt es sich, zum Erstaunen, besser als ich dachte. Überhaupt emport Gesundheit. Dagegen giebt es diesen Winter keine neue Unzeitgemässe, es ist nicht zu erzwingen.
Ich habe mit meiner Nr. 3 in Bayreuth eine ganz unglaubliche Freude gemacht, und überhaupt scheint es, dass sie mit gutem Sterne im Lande herumwandelt. Schmeitzner ist nun auch Besitzer von Overbecks Christlichkeit und von meinen Nr. 1 und 2. Deren buchhändlerischer Erfolg war, wie sich dabei ergab, schlecht genug: von der Straussiade sind über 500 Exemplare, von der Historie nicht 200 verkauft. Welche Zukunft!
Romundt denkt nun endlich an Schulmeistereien von Ostern ab, es wird schlimm für den armen Freund sein, wegzukommen, schlimm auch anzukommen. Und doch halten wir’s in jeder Beziehung jetzt für nothwendig, dass er die akademische Philosophirerei aufgiebt; vor allem weil er sich doch persönlich schlecht dabei befindet und oft recht angegriffen und nervös ist.
Die geschuldeten Gelder sind eingetroffen, ganz unerwartet, dem Geschenke vergleichbar. Mit Deinem Briefe aber hast Du mich ganz und gar gerührt, wahrhaftig, meine Freunde denken zu gut von mir und zu wenig an sich, dabei bleibts.
Morgen ist Overbecks Geburtstag, er wird 37 Jahre. Was für ein treffliches Buch, ich kaue daran herum und immer schmeckt mirs. Es ist eine zähe Kraft in dieser Natur, von welcher ich die grösste Meinung habe; er ist selbständig, gut und fleissig und hat den Muth alles dreies Jahr aus Jahr ein zu sein. Sieben<und>dreissig Jahre! —
Baumgartner mein Erzschüler ist jetzt Husar in Bonn und schreibt so, dass man viel Freude haben kann.
Heute Abend war ich eine Viertelstunde ganz glücklich: ich hörte den Carneval romain von Berlioz. Wir wollen nur alle unsere Sachen recht ordentlich machen, es zieht dann alles auch so einen Schweif von Glück hinter sich drein.
Gersdorff ist in Hohenheim, wir haben zusammen eine ganz tolle vergnügte und gefrässige Woche verbracht; jeden Morgen von 11—12 Uhr Gespräche über Heirathen und dergleichen.
Adieu mein lieber guter Freund, ich bedaure immer, dass Du das letzte Mal die Baseler Wirthschaft so trübe und vernebelt gefunden hast. Es geht ganze Monate lang anders zu. Zum Beispiel jetzt. In allen Treuen Dein
Dich liebender Freund F. N.