1874, Briefe 339–411
383. An Elisabeth Nietzsche in St. Romay
Bergün, Donnerstag. <30. Juli 1874>
Meine liebe Lisbeth
heute greuliches Regenwetter, Wolken ganz tief. Inzwischen bin ich fleissig gewesen und habe meine Arbeit rüstig gefördert, doch bin ich noch weit vom Schlusse, weil das was noch fehlt, zum Schwersten gehört. Doch ist beschlossen, am Sonntag abzureisen und am Bayreuther Plan festzuhalten: ich brauche Erholung und finde sie vielleicht dort, Erheiterung zumal. Sonntag Abend bin ich in Chur, Montag früh fahre ich nach Stachelberg, Dienstag von dort zurück und über Rorschach nach Bayreuth. Stachelberg liegt fast am Wege, deshalb passt es mir.
Unaufhaltsamer Regen. — Jetzt giebt es einige Pensionäre, eine würtembergische Adelsfamilie und etwas Schulmeisterhaftes aus Saarbrücken.
Es plätschert wie toll seit heute früh. — Vorhin lasen wir die Kurlisten aus Graubünden und Engadin; zahllose Bekannte darin. Von früh bis Abends durchströmende Fremde. Nichts „Romanhaftes“, wonach Du begehrst. Fritzsch hat concedirt, dass die Unzeitgemässen anderswo fort erscheinen (Geld hat er nicht geschickt!) Schmeitzner hat in der artigsten Weise alles angenommen, und somit geht es ruhig weiter in der Veröffentlichung der Unzeitgemässen.
Doch ist es etwas Schreckliches, so immer gegen den Strom zu schwimmen und mitunter habe ich das Leben recht satt.
Overbeck hat geschrieben, doch nicht gerade zum Glück stimmend. Was hört auch unsereiner, wenn er nach Deutschland kommt!
Meine Bemerkung über Fr. R<ohr> sollte Dich nicht aufregen, ich theilte sie als Curiosum mit. Übrigens sind Deine Bedenken meine Bedenken. Nur weisst Du, dass der Augenblick gewöhnlich mehr kann als eine ganze Kette von Nach- und Vorblicken.
So scheint es beinahe, dass wir uns die Ferien nicht wieder sehn? Und nach den Ferien auch nur so abschiedsweise? Wir haben’s doch recht verrückt eingerichtet. — Willst Du übrigens, dass ich nicht nach Bayreuth gehe, sondern mit Dir irgendwo zusammentreffe, so telegraphire nur, und auch wohin. Oder willst Du mit nach Bayreuth?
Lebe recht wohl, liebe Lisbeth und denke an
Deinen Bruder.
Sonntag, wie gesagt, bin ich Abends in Chur, Hôtel Lukmanier. Montag Abends Stachelberg bei Glarus.
Romundt grüsst schön.
Ich freute mich über Dein idyllisches Leben, grüsse Vischer von mir, auch die Knaben.