1874, Briefe 339–411
369. An Oswald Marbach in Leipzig
Basel den 14 Juni 1874.
Hochverehrter Herr Hofrath,
Ich komme so spät dazu, Ihnen für die Übersendung Ihrer Oresteia und des Prometheus zu danken, thue dies aber mit umso mehr Überzeugung als gerade die Beschäftigung mit der Oresteia — ich lese im Colleg die Choephoren — einer der Gründe war, der mich vom Briefschreiben abhielt. Ich weiss kaum einen andern Menschen noch und gewiss keinen jetzt lebenden Philologen, der in einem so tiefen und natürlichen Verhältniss zur antiken Tragödie stünde wie Sie und der so sehr gehört zu werden verdiente, wenn er etwas von seinen inneren Erfahrungen mittheilt. Ich las mit dem grössten Wohlgefühl Ihre Übersetzung und glaube nichts Besseres gelesen zu haben, so dass ich mir sofort Ihre Sophocles-Übersetsetzungen kommen liess. Im Commentar zur Oresteia fand ich die tiefsten und nachdenklichsten Sachen; übrigens ist es eine Wohlthat dass Sie auf die wilde Conjecturalkritik unsrer modernsten Aeschylus-Gelehrten einfach keine Rücksicht genommen haben. Der Dr Keck, Herausgeber und Verstümmler des Agamemnon hat in anmasslicher Weise sich im Jenaer Litteraten-Blatt über Sie ausgelassen — diese Herren thun wirklich als ob einer Hühner gestohlen hätte, wenn jemand, der nicht Philologe ist, sich auf ihrem Pachthofe, dem Alterthumsgebiete, sehen lässt. Vom Theater versteht dies Völkchen übrigens nicht die Spur, und ihre Verse versteht kein ehrlicher Mensch. Ich las einmal meinen Schülern die Keckische Übersetzung des Agamemnon vor und bemühte mich sehr — aber endlich lachte ich selbst mit über das verschrobene schwülstige Deutsch, in dem diese kleinen Aeschylus-Äffchen sich so grossartig fühlen. Gott sei Dank, dass Sie uns von der kauderwelschen Rhythmik befreit haben, in der gewöhnlich griechische Chöre übersetzt werden und die gewiss nicht griechisch und deutsch ist.
Was Shakespeare angeht — kennen Sie das ekelhafte Pamphlet unsres Modephilosöphchen E. von Hartmann gegen Romeo und Julia?
Wir leben in einer wunderlichen Zeit; die deutsche Gesittung knarrt in ihren Angeln, und die Gefahr ist gross.
Verehrungsvoll
Ihr
Dr Friedrich Nietzsche