1874, Briefe 339–411
362. An Emma Guerrieri-Gonzaga in Florenz
Basel den 10 Mai 1874.
Mitunter weiss ich gar nicht mehr, ob ich ein Recht habe, von allen möglichen Leiden unserer Zeitgenossen zu reden; denn ich sehe die Leidenden nicht, nur mich selbst ausgenommen und mache vergebens die Augen auf. Zumal wenn man unter Gelehrten lebt, wird einem leicht zu Muthe, als ob hier nicht einmal leidfähige Menschen wären; — nur dass sie auch nicht glücklich machen können! Das aber können wir, lieber Briefschreiber, unter einander thun — weil wir zusammen leiden, wissen wir auch uns zu beglücken; und das thaten Sie bei mir mit Ihren Zeilen. Denn ich weiss keine höhere Freude als wieder von einem Menschen zu hören, der ein Sehnender und ein Hoffender ist; ach, und mitunter bedarf ich recht herzlich und stark dieser Freude, um überhaupt noch ein Hoffender sein zu können!
Ich errathe aus Ihrem Briefe weit mehr Übereinstimmung zwischen uns als vier Seiten eigentlich verrathen könnten. Es scheint mir dass Sie eine tiefe Veränderung der Erziehung des Volkes für die wichtigste Sache von der Welt halten — und Sie werden dabei nicht erst auf meine Zustimmung warten! Ich kenne auch für mich kein höheres Ziel, als irgend wie einmal „Erzieher“ in einem grossen Sinne zu werden: nur dass ich sehr weit von diesem Ziele bin. Inzwischen muss ich erst alles Polemische Verneinende Hassende Quälende aus mir herausziehn; und ich glaube fast, wir müssen das Alle thun, um frei zu werden: die ganze schreckliche Summe alles dessen, was wir fliehen, fürchten und hassen, muss erst zusammen gerechnet sein — dann aber auch kein Blick mehr zurück in’s Negative und Unfruchtbare! Sondern nur noch pflanzen, bauen und schaffen!
Nicht wahr, das hiesse „sich selbst erziehn“! Doch wem gelingt dies recht und fortwährend! Und doch ist’s nothwendig und gar keine Hülfe anderswoher zu erwarten. Mag der Einzelne sich dabei trösten, wie und auf welchem Wege er kann: Natur, die göttliche Goethische Gottnatur, Kunst und Religion (gewesene oder zukünftige), alles was stärkt und die verderbliche aber für uns unvermeidliche Vereinsamung ertragen lehrt, vor allem der herzliche Zuruf der Mit-Leidenden, Mit-Liebenden und Mit-Hoffenden, alles alles sei gesegnet und verehrt: damit nur ja der also Strebende nicht schwach und persönlich werde, damit er sich von jeder Unzufriedenheit und Verdrossenheit des Ich’s frei halte, um nur die grosse allgemeine Noth auf seinem Rücken zu tragen! Und mehr noch ist nöthig: man muss sogar den Muth haben, mitsammt dieser Noth glücklich zu sein: mindestens so wie es der Krieger im Kampfe ist. Alles „Krächzen und Ächzen“ aber wollen wir mit Goethe weit von uns abthun.
Sie sehen, ich rede zu mir, während ich zu Ihnen reden sollte: und doch — was könnte ich Ihnen überhaupt sagen, wenn ich nicht zu Ihnen und zu Jedem wie zu mir sprechen darf? Als Mensch zu Mensch, wie Sie es selbst wollen?
Alles Gute sei um Sie!
Ihr
Friedrich Nietzsche