1874, Briefe 339–411
370. An Emma Guerrieri-Gonzaga in Florenz
Basel den 14 Juni 1874.
Da Sie, verehrte Freundin, in Ihrem letzten Briefe eine kleine Beichte gemacht haben, sollte ich eigentlich das Recht haben, ein klein wenig Beichtvater zu spielen, bin aber dazu nicht im Stande und zwar deshalb weil das, was Sie beichten, mir gar sehr gefällt und viel mehr als Sie glauben können! Nämlich — es ist sehr hübsch dass Ihnen die „Geburt der Tragödie“ befremdend und mein AntiStrauss empörend vorkam, da ich es nun endlich auch einmal erlebe, von Jemanden der nicht „Wagnerianer“ ist, gern gelesen zu werden. — So wollen wir denn auch kein Wörtchen über jene beiden Schriften mit einander sprechen und es ganz und gar der Zukunft überlassen, ob sie uns wieder an jene Schriften erinnert. Ich würde Ihnen ohne die „Beichte“ ein Exemplar der erstgenannten, die jetzt eben in zweiter Auflage erscheint, geschickt haben, thue es aber nun nicht und verspreche dafür die dritte Unzeitgemässe — in der Sie wohl meine Antwort auf Ihre Frage finden werden, ob ich auch mit Ihnen an eine „zukünftige Religion auf ganz philosophischer Grundlage“ glaube? Nun möchte ich Ihnen durchaus aber heute etwas schicken, zum sofortigen Beweis, wie sehr ich mich über Ihren Brief ergötzt habe — es verdriesst Sie doch nicht dass ich das Wort „ergötzt“ brauche? Glücklicher Weise haben ja die ernstesten Dinge mitunter einen Anflug von Heiterkeit — und ich habe einen so guten Glauben an meine Meinungen und ihren unterirdischen Zusammenhang, dass ich fast darauf schwören möchte, es komme sehr bald einmal ein Tag, wo wir uns über Griechen und deutsche Cultur, über Strauss und Tragödie ebenso gut verstehen, wie über tausend andre Dinge. Das ist lächerlich, ein so guter Glaube, nicht wahr? Nun lachen Sie mich nur aus, ich verdiene es.
Doch ich wollte sagen dass ich Ihnen heute durchaus etwas schicken möchte und dass ich nichts anderes hätte als ein Bild mit einer kleinen Inschrift darauf, von der ich wünsche, sie möge Ihnen das sagen, was sie mir sagt. Ich hörte einmal, bei einer Reise über den St. Gotthard, Mazzini diese Verse sprechen; er meinte, es seien die schönsten, welche Goethe gemacht habe.
Leben Sie recht wohl.
Ihr
Friedrich Nietzsche