1874, Briefe 339–411
353. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 19. März 1874>
Auch mein Semester kommt zum Schluss, morgen nämlich, obwohl natürlich nur an der Universität; das Pädagogium wirft mir in seiner kärglichen Manier überhaupt anderthalb Wochen Osterferien ab, nicht mehr. Darin bist Du, liebster Freund, besser dran, aber auch nur darin, denn Dein übriges Loos beklagen wir Verbrüderte, immerfort, einzeln und gemeinsam. Ich habe wieder einen schönen Plan geschmiedet, für späterhin, um uns dauerhaft zu vereinigen — aber ein paar Jahre müssen noch in’s Land gehen. Doch nicht wahr, die Versammlung im Herbst, das concilium Rhaeticum, das ist fest und dabei bleibt’s? — Nun Bayreuth! Wir wissen durch Frau W<agner> — und es soll das Geheimniss der Freunde sein — dass der König von B<ayern> in der Form von Vorschüssen bis zu 100 000 Thaler das Werk unterstützt, so dass die Arbeiten (Maschinen — Dekorationen) rüstig gefördert werden. Wagner selbst schreibt dass 1876 der Termin sei, er ist muthig und glaubt dass jetzt das Unternehmen im Reinen ist. Nun das walte Gott! Dies Warten und Bangen ist schwer zu verwinden, ich hatte wirklich zeitweilig die Hoffnung ganz aufgegeben.
Ich erwarte immer von Dir die Meldung einer ordentl. Professur zu bekommen? — Übrigens sind die Menschen schrecklich dumm in Beziehung auf akademische Beamtungen, ich war neulich in Freiburg und hörte über den unausstehlichen Pedanten und Nörgelfritzen Keller klagen. Ist Recht! dachte ich, klagt nur zu; auch erfuhr ich dass Ritschl die Ursache seiner Berufung sei. Dieser schweigt und ich ergötze mich bei der Vorstellung, wie wenig er beim Lesen meiner „Historie“ verstehen wird. Dies Nichtverstehen schützt ihn vor dem Ärger und das ist das Beste an der Sache.
Professor Plüss in Schulpforte, mir fremd, ein Historiker, hat meine Mutterstadt Naumburg durch eine begeisterte Rede über die Geb. der Tragödie und die erste Unzeitg. aufgeregt. Herr Bruno Meier hat über Dräseke’s Beitrag zur Wagnerfrage, bauchschütternden Angedenkens, eine lange schwere widerlegende Abhandlung geschrieben, worin ich als „Feind unserer Cultur“ feierlich denuncirt und übrigens als verschmitzter Betrüger unter Betrognen dargestellt werde. Er schickte mir seine Abhandlung persönlich, sogar mit Wohnungsangabe zu; ich will ihm die zwei Schriften des Wilamopses zuschicken. Das heisst doch christlich seinen Feinden wohlthun. Denn was dieser gute Meier sich freuen wird, über Wilamopsen, das ist gar nicht auszudrücken.
Dr. Fuchs hat im Wochenblatt wieder mich ekelhaft angelobt, ich hab’s nun satt mit dem. Doch was erzähle ich Dir von Lob und Tadel! Hier sind wir durch unsre Freundschaft vor Grillen und Verdriesslichkeiten ziemlich geschützt, und da ich wieder etwas unter dem Herzen trage, so geht mich Lob und Tadel gar nichts an. Dass ich es mit meinen Ergüssen ziemlich dilettantisch unreif treibe, weiss ich wohl, aber es liegt mir durchaus daran, erst einmal den ganzen polemisch-negativen Stoff in mir auszustossen; ich will unverdrossen erst die ganze Tonleiter meiner Feindseligkeiten absingen, auf und nieder, recht greulich, „dass das Gewölbe wiederhallt“. Später, fünf Jähre später, schmeisse ich alle Polemik hinter mich und sinne auf ein „gutes Werk“. Aber jetzt ist mir die Brust ordentlich verschleimt vor lauter Abneigung und Bedrängniss, da muss ich mich expectoriren, ziemlich oder unziemlich, wenn nur endgültig. Elf schöne Weisen habe ich noch abzusingen. — Unsern Overbeck habe ich zu meiner grossen geheimen Freude wieder so weit dass er Ostern auch wieder öffentlich loskämpft, in der Weise seiner Streit- und Friedensschrift Nr. 1. Siehst Du, hier geht’s muthig zu, wir hauen um uns herum. Immer vorwärts mit strengem Fechten! — Nur der gute treffliche Romundt macht uns einige Sorge, er wird zum unerfreulichen Mystiker. Klarheit war nie seine Sache, Welterfahrung auch nicht, jetzt bildet sich ein wunderlicher Hass gegen die Kultur überhaupt in ihm aus — nun wie gesagt, wir (Overbeck und ich) sorgen uns etwas. Er grübelt in unheimlicher Weise über den Anfang der Empfindung, synthetische Einheit der Apperception — dafür behüte uns unser Heiland Jesus Christ.
Gute Briefe habe ich, von vielen Seiten. Burckhardt, mein College, hat mir in einer Ergriffenheit über die Lecture der „Historie“ etwas recht Gutes und Characteristisches geschrieben. — Dem alten Vischer geht es recht schlecht, er hat sich vom grössten Theil seiner Geschäfte dispensiren lassen und sieht sehr grün weiss gelb-elend aus.
An der Geburt der Tragödie wird eifrig gedruckt — endlich!
Wann kannst Du denn im Herbste bei uns eintreffen? Ich möchte das genaueste jetzt schon wissen: damit die Freunde ihre Sommerpläne machen können.
Lebwohl herzlich geliebter Einsiedler und Romantiker des Nordens in Bezug auf den Süden.
Übrigens sind wir allesammt curiose Kerle, ich wundere mich sehr und immer sehrer.
Dein F N.