1874, Briefe 339–411
368. An Erwin Rohde in Kiel
1 Juni 1874.Basel.
Liebster Freund,
ich erfahre so eben wieder durch Gersdorff und die Bayreuther, dass man sich sehr wieder um mich sorgt, dass man meine Stimmung gefährlich und galgenhumoral findet usw. Nun, ich kann mir nicht helfen, einige Menschen sehen aus der Ferne besser als ich aus der nächsten Nähe — und so mag wohl etwas an der Besorgniss daran sein. Nur dass mein Befinden, leiblich gesprochen, gut ist, Magen, Stuhlgang, Gesichtsfarbe, alles gesund, dazu bin ich wieder in leidlich productiver Seelenverfassung, also heiter, habe meine Schwester bei mir, kurz ich sehe einem Glücklichen so ähnlich als ich überhaupt weiss, was Glück ist — nämlich dass es etwas dergleichen giebt, ist kein Zweifel.
Nun lies den Gersdorffschen Brief und denke Dir Dein Theil dabei. — Wüsste ich nur, dass es Dir nicht schlimmer gienge als mir! Ich seufze, wenn ich an Dich denke.
Sage einmal, liebster Freund, willst Du nicht auch das Mittelchen gebrauchen, das ich selbst, ebenso Overbeck, gebrauchen? Man ritzt sich die Adern und lässt etwas Blut fliessen — unzeitgemäss wie die Andern schreien, die den Aderlass als ein überwundenes und antiquirtes Heilmittel betrachten. Ich meine: willst Du nicht auch einmal Dein und unser Elend etwas ausschütten und sagen, was Du leidest? Es liegt ganz gewiss etwas Befreiendes darin, den Leuten grob zu sagen, wie unser einer sich eigentlich unter ihnen befindet. Beseitigen wir den Bandwurm der Melancholie schriftlich — indem wir die Andern zwingen, unsre Schriften zu verschlucken.
Habt ihr auch so herrliche Mondabende? Man mag gar nicht in die Häuser zurück und mitunter glaube ich wirklich, dass die Luft singt. — Ich habe eben die Vorrede zu meiner dritten Unzeitgemässen geschrieben.
Einen schönen allerherzlichsten
Sonntagsgruss!
Dein Friedrich N.