1874, Briefe 339–411
342. An Carl Fuchs in Berlin
<Basel, vermutlich Februar - März 1874>
Es ist Sonntag Morgen und ich dachte eben de tranquillitate animi nach — da brachte mir Herr Prof. Overbeck Ihren Brief, lieber Herr Doctor. Nein, Niemand kann Ihnen zu dem Schritte rathen, von dem Sie schreiben; es müsste ein heiliger Wahnsinn sein, der Sie vorwärts triebe, wider alle Vernunft — nun dann würden wir Anderen uns so gut wie möglich in’s Unvermeidliche schicken und Ihnen zu helfen suchen. Inzwischen müssen wir Ihnen nur so unzweideutig wie möglich sagen, dass Basel für Ihre Lehrer-Bestrebungen, für Ihre philosophische Kundgebung, für Ihr leidlich-leibliches Fortkommen ein ungeeigneter Boden ist: es sei denn dass Sie nicht als mönchischer Gelehrter fortleben wollen, der nichts anderes von einem Orte begehrt als Ruhe und Einsamkeit. Beides kann man hier haben — und im Verhältniss zu Ihrem zappeligen unruhigen Hatz-Berlin will das freilich viel sagen. Aber eigentlich kann man das überall haben, ich sollte meinen, selbst gerade in Berlin oder Paris; man muss nur wenig begehren und sich eine Aufgabe stellen, bei der man gar nicht mehr versucht ist, auf den unruhigen Bildungs-Juden-Pöbel und die ganze anerkannte Öffentlichkeit hinzusehen. Die wahre Einsamkeit liegt in einem grossen Werke. Vorlesungen und Akademien — das ist alles nichts oder wenig mehr als der äusserliche Rahmen unsrer Existenz. Sich dahinein zu flüchten begreifen wir — Overbeck und ich — nicht recht mehr, da wir oft an das Gegentheil gedacht haben, an das Hinausflüchten, zu völliger Unbeschränktheit, um an irgend einem Winkel der Welt, sei es in den einfachsten Verhältnissen, denkend und frei weiter zu leben. Deshalb sind wir wohl auch schwerlich die rechten Rathgeber. Für diesen Ort könnte Ihnen übrigens Niemand etwas garantiren; eine Professur für Musik haben wir nicht und bekämen wir nicht, denn zu mehr als 2 akademischen Zuhörern würden Sie es, in einer recht unmusikalischen Stadt, schwerlich bringen. Die bezahlten Professuren der Philosophie sind wie wir nach einem ganz bestimmten höchst belehrenden Falle urtheilen müssen, für einen Anhänger Schopenhauer’s ganz und gar unzugänglich: überhaupt herrscht grosse Ungeneigtheit gegen jede Förderung dieser „Richtung“. S. Bagge genügt den Baselern, ebenso der Director Reiter. Ich habe die Baseler gern und sage dies nicht mit Ironie, sondern nur um Ihnen über die hiesigen Schwächen und Beschränktheiten ein Licht aufzustecken. Man lebt hier theuer, ein Junggeselle mit sehr mässigen Ansprüchen nicht unter und wahrscheinlich über 3000 frc. (800 Thl.) Ja wer könnte Ihnen rathen, werther Herr Doctor! Ich vermuthe dass ich an Ihrer Stelle eine Musikdirectorstelle in einer kleineren Stadt oder noch besser eine einträgliche Organistenstelle begehren würde: dann liesse ich die Welt laufen und erlaubte nicht dass mich etwas noch hin und herzöge. Wir werden Alle ruinirt, wenn wir unruhig werden. — Das ist freilich alles sehr wenig und sehr schwach, leider aber schon viel zu viel für meine Augen. Und so seien Sie nicht böse dass ich hiermit schliesse. Overbeck wünscht ebenso herzlich wie ich, dass Sie einen guten Entschluss fassen mögen — aber, wie gesagt, rathen können wir Ihnen nichts. Wer könnte Ihnen rathen!
Mit warmen Wünschen
Ihr
Friedrich Nietzsche.
NB. Die Preisaufgabe wird von Seiten des A<llgemeinen> D<eutschen> Musikvereins nicht zum zweiten Male wieder gestellt werden.