1874, Briefe 339–411
365. An Richard Wagner in Bayreuth
Basel, den 20 Mai 1874.
Verehrtester Meister
fünf Jahre sind vorbei seit jenem Pfingstsonnabend, da ich zuerst bei Ihnen in Tribschen erschien, und das nennt man ein Lustrum. So will ich denn diesmal Ihren Geburtstag benutzen, um für mich eine neue Zeitrechnung zu gründen, nach Lustren; damit verbanden die Römer grosse Reinigungsopfer und feierten dies Fest als ein rechtes Frühlingsfest. So aber muss ich’s auch feiern, als ein Fest der Lustration und der Jugend; denn mir ist wirklich so als ob ich seit jenem Mai vor fünf Jahren immer jünger und freier geworden sei; übrigens sagen es mir auch die Menschen, dass ich alle Jahre gesunder wohler und heiterer und überhaupt jünger aussehe. Es ist ein unvergleichliches Glück für einen, welcher auf dunklen und fremden Wegen tappt und stolpert, allmählich in die Helle geführt zu werden, wie Sie es mit mir gemacht haben; weshalb ich Sie gar nicht anders als einen Vater verehren darf. So feiere ich Ihren Geburtstag auch zur Feier meiner Geburt; und wenn damit wenig gesagt ist, um Sie zu ehren, so ist es doch die einzige Art, wie gerade ich Ihnen heute meine Verehrung ausdrücken kann.
Nun möchte ich Ihnen so wenig als möglich Sorge machen; und deshalb verspreche ich Ihnen heute, dass für die nächsten zwei Jahre mein Leben gesichert und gegründet ist — zwar auf eine Hoffnung, aber eine solche, welche nie zu Schanden, sondern unter allen Umständen nur zum Heile werden lässt. Seit ich weiss, dass in Bayreuth der Berg überwunden ist — die ersten Monate dieses Jahres waren fürchterlich aus der Ferne mitzuerleben — ist die Mitternachtszeit- und -Sorge vorbei, und nun geht alles dem Lichte zu.
Das würde Sie doch wohl nicht beunruhigen, wenn ich es eines Tags an der Universität, in der sonderbaren gelehrten Luft, nicht mehr aushielte? Ich sinne immer wieder nach, Sommer für Sommer, über „Verselbständigung“ unter den bescheidensten Verhältnissen (unter denen leben zu können ich stolz bin). Hier und da kommt es einmal zum Missmuth, doch sehr selten, und im Ganzen habe ich mich selbst in der Gewalt und hielte es wahrscheinlich selbst unter viel ungünstigeren Sternen aus als die sind, welche mir jetzt leuchten: und welche Glückssterne sind. Übrigens lohnt sich selbst jener seltnere Missmuth — wenn er wenigstens durch ergötzliche Briefe wie der Bandwurm schriftlich beseitigt werden kann. Ich selbst stak damals, als der Brief eintraf, tief in der Musikerei darin, welche ich mir, nach dem modernen Princip der „Selbsthülfe“, verordnet hatte. Zwar nicht die „Oper“ war’s — auch nicht die Nachtigall (worüber bei meiner „Musik“ gar kein Zweifel bleibt), aber es war, mit Respect zu reden, meine Musik und gefiel mir ganz absonderlich wohl. Auch glaube ich wieder viel dabei gelernt zu haben, und habe niemals mir so in Betreff figurirter Choräle ein Genüge gethan. Der Hymnus an die Freundschaft ist nun fertig — ich wollte, meine Freunde hätten einen besseren Componisten zum Freunde als ich bin; denn sie hätten es verdient.
Jetzt geht es wieder philologisch-kritisch zu, das Semester hat wieder Gewalt über mich (auch glaube ich in der Vierheit meiner Zuhörer die schlechtesten Köpfe der Universität glücklich zusammen zu haben Sterbliche Menschen! Sterbliche Menschen, wie Falstaff sagen würde.) Aeschylus, den ich mit diesen Armen an Geist Körper und Schicklichkeit zu verhandeln habe, hat mich jetzt mit Oswald Marbach zusammengebracht; dieser schickte mir, mit einem Briefe über die Geburt der Tragödie, seine Übersetzung der Oresteia, sammt Commentar — und ich habe in beiden Hinsichten nichts Besseres bisher kennen gelernt, am wenigsten von Seiten der Philologen; so dass Oswald Marbach mir sehr viel Dank zu verdienen scheint. So sind im Commentar die tiefsten Bemerkungen. Er ist einer der ganz wenigen, welche mit einer natürlichen Noth und Liebe an der alten Tragödie hangen.
In diesem Sommer werde ich wahrscheinlich einmal, Ihrer herzlichen Mahnung nicht so wohl folgend als ausweichend, in Bayreuth erscheinen; es ist so absurd, sich zu Dingen mahnen zu lassen, nach denen man mit allen Fingern greifen möchte. Doch hänge ich jetzt ein klein wenig sehr von dem innern Fort- und Ausgange meiner Arbeiten ab und weiss nicht über 14 Tage voraus meine Zukunft. Ich habe ein ganzes Nest voll halbausgebrüteter Eier im Kopfe. Fruchtbarkeit verpflichtet, sagte die Katze als sie 13 Junge warf.
Und nun, geliebter Meister, mein Geburtstagswunsch! Behalten Sie nur, was Sie haben, dann geben Sie uns auch, was Sie haben und was wir so ohne Weiteres leider nicht haben! nämlich Siegesmuth und Unerschütterlichkeit und Jugend! Wir Anderen sind, Ihnen gegenüber, nun einmal nichts anderes als Greise, furchtsame, verschüchterte Greise. Und da dem „Ewig-Jungen“ selbst der Gott weicht, „in Wonne weicht“, so dürfen wir Alten wohl auch noch die erlösende That vom übernächsten Sommer zu erleben hoffen; und ein hoffender Alter wird dadurch selber jung.
Und so will ich denn das lustrum feiern, das Frühlings- und Hoffnungsfest.
In herzlicher Liebe
Ihr
Friedrich Nietzsche