1874, Briefe 339–411
382. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Bergün, gegen Ende Juli 1874>
Meine liebe gute Mutter, ich sitze hier auf den Bergen und will einmal an Dich wieder ein Briefchen schreiben, da unsre Lisbeth fern von uns Beiden ist und nicht wie gewöhnlich im Sommer Dir von mir und mir von Dir erzählen kann. Grimmiges Regenwetter seit ein paar Tagen, und alle Menschen sehr ungeduldig — das ist der Zustand in dieser Einsamkeit, an dem nur ich nicht Theil habe, weil ich mit Nachdenken und Fertigmachen einer neuen Schrift beschäftigt bin. Da lebt man anderswo, wo einem der Regen nichts anhat. Übrigens geniesst man ohne dran zu denken die stärkende Luft der Alpen und ist aus dem Stadt- und Alltagsleben heraus, da fällt einem manches ein, was man in der Tiefe und in der Sommerschwüle der Städte nicht findet.
Sonst sind wir, nämlich Freund Romundt und ich, ziemlich Herren des Hôtels; nur kürzlich ist ein badischer Edelmann mit Familie und ein preussischer Beamter hinzugekommen. Sonst gehen bis zu hundert Menschen täglich hier mit Post vorüber und essen in diesem Hause, so dass wir mitunter zu zwei, aber dann auch zu 40 Personen zu Tisch sind. Der grösste Theil will nach St. Moritz, bleichsüchtiges und nervenschwaches Volk aus der ganzen Welt zusammengeführt durch die modische Berühmtheit jener Bäder.
Im Herbst ist bei mir in Basel Zusammenkunft meiner Freunde; Gersdorff und Rohde und wir drei die jetzt in einem Hause wohnen, Overbeck, Romundt und ich — alle kommen oder bleiben dazu da. Ich bin leider meiner Schule halber um diese Zeit nicht flügge oder höchstens auf 10 Tage, und auch dies erst im October.
Meine Freunde Krug und Pinder machen Hochzeit, und ich habe bereits mit Lisbeth über meine Geschenke an sie berathen. Ausser ihnen habe ich eine grössere 4 händige Composition, mit dem Titel „Hymnus an die Freundschaft“ gemacht, von der beide eine schöne Abschrift erhalten sollen.
Mein Leben verstreicht unter grossen Unternehmungen und ich bin an die dreissiger Jahre herangekommen und immer mehr giebt es der Mühe und der Arbeit. Mitunter ist mir, ich hätte genug erlebt für sechzig Jahre.
Gesundheit ist im Ganzen in Ordnung gewesen, seitdem ich meine Lebensweise verändert habe — Ärzte und Medicinen habe ich, was Dich freuen wird, seit Neujahr nicht mehr angewendet. Doch ist und bleibt der Magen schwach. Im Herbst werde ich Dich bitten, für mich einmal einen grossen Obstkauf zu machen ein paar Körbe guter Äpfel. Zu Mittag will ich wieder so einfach leben, wie ich es im ersten Vierteljahr gethan habe — und so wird’s gehen. Weisst Du noch, wie desperat es vorige Weihnachten um mich stand?
Es wird Abend und ganz grau, da will ich schliessen und einen herzlichen Gruss an Dich heimsenden, hoch von den Engadiner Alpen her.
Treulich Dein Sohn Fritz.