1869, Briefe 1–633
9. An Elisabeth Nietzsche in Leipzig
<Basel, Ende Juni/Anfang Juli 1869>
Liebe Lisbeth,
kaum weiß ich noch, ob dieser Brief Dich noch auf Deiner Studienreise nach Leipzig antrifft; jedenfalls wird er Dich erreichen, um Dir zu sagen, daß ich mich über Deinen letzten spezifisch Leipzigerischen Brief, der nach Rosenthal und Kintschy duftete, sehr gefreut habe. Im Ganzen bist Du ja jetzt recht eingeweiht in meine Leipziger Vergangenheit und scheinst ja ähnlich befriedigt zu sein, wie ich es war. Das Unglück, daß die Frau Biedermann Dir nicht gefällt, ist noch zu ertragen: eine sehr gemüthvolle Athmosphaere ist nicht um sie herum, aber sie ist durchaus brav und leistet schließlich mehr als die ewig lachenden Weiberchen.
Besonders angenehm ist mir aber, daß Du auch mit der Ritschl bekannt geworden bist: nun hast Du doch einmal ein Beispiel andrer Art, als in der Naumburger Gesellschaft für mustergiltig gehalten wird. Überhaupt wird Dir jene ganze Gesellschaft doch nachgerade etwas engherzig und beschränkt erscheinen.
Über die Photographie der Großfürstin habe ich mich in sofern gewundert, als sie viel zu jung auf ihr aussieht, als sie doch nach Menschenermessen sein kann. Aber die Hofphotographen sind schreckliche Lügner. Wenn Du sie übrigens noch einmal siehst, so lege ihr meinen Dank „unterthänigst“ vor die Beine.
Zunächst aber bitte ich Dich, mir recht bald einmal dh. sehr bald, in den nächsten Tagen, zu schreiben und mir die Wünsche Deines Herzens für bevorstehenden hohen Geburtstag zu bezeichnen.
Übrigens bin ich seit gestern Mittag in meiner neuen Wohnung und habe meine scheußliche Höhle verlassen, bei leidlichem Wetter. Bisjetzt aber haben wir Novemberkälte und fast fortwährenden Regen, mit Ausnahme weniger Tage, gehabt. Der edle Beruf ist übrigens doch etwas angreifend; Abends und speziell Sonnabends bin ich immer recht erschöpft. — Briefe habe ich neuerlich bekommen von Rohde aus Rom, von Gersdorff aus Berlin, von Romundt aus Leipzig, von Wagner aus Tribschen. Bei letzterem habe ich wieder ein paar sehr schöne Tage verbracht, zu meiner innerlichen Erbauung. Zu seinem Geburtstag war ich von Frau von Bülow eingeladen, konnte aber der Amtsgeschäfte wegen nicht kommen. — Ja ein Amt! ein wunderliches Ding!
Beiläufig: ich habe seit längerer Zeit an unsre Mutter geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen: sollte folgende Adresse nicht richtig sein „per adr. Herrn Diakonus Schenkel in Planitz bei Zwickau“.?
Was denkst Du denn betreffs der Schweizerreise in diesem Jahre? Aus vielen Gründen ist es aber gerathener, wenn ihr einzeln kommt. Schreibe mir doch einmal Deine Meinung darüber.
Dein getreuer Bruder
Grüße nach allen Seiten! An Windisch usw.