1869, Briefe 1–633
8. An Erwin Rohde in Rom
<Basel, 16. Juni 1869>
Theuerster Freund,
vielleicht hast Du meinen Brief, allerdings nach ungeheuren ambagibus, schon erhalten: trotzdem fühle ich das stärkste Bedürfniß, Dir schnell noch ein zweites Lebens- und Liebeszeichen zu geben, zugleich als Dank für Deinen mich so heimatlich und vertraut berührenden Brief. Es tritt allmählich das ein, was ich von Anfang an sicher erwartete: ich fühle mich unter der Masse meiner geehrtesten Collegen so recht fremd und gleichgültig, daß ich bereits mit Wollust Einladungen und Aufforderungen aller Art, wie sie täglich einlaufen, zurückweise. Selbst die Genüsse von Berg Wald und See werden mir gelegentlich verdorben durch die plebecula meiner Amtsgenossen. Darin stimmen wir also wieder einmal überein: wir können die Einsamkeit vertragen, ja wir lieben sie. Und wenn wir beide zusammen sind, so ist dies ja eigentlich keine Zweiheit, sondern die wahre und echte Monade: dann sind wir erst recht einsam und abgeschnitten von aller zudringlichen Welt. — Ich sinne immer über Möglichkeiten nach, wie ich’s nur mache, Dich in die Nähe Basels zu bringen. Wenn ich den Zustand der hiesigen Philologie ansehe, so fühle ich, daß alsbald ein neuer Lehrer hier nöthig sein wird. Vischer liest im nächsten Semester nur ein zweistündiges Colleg: das heißt: er liest überhaupt zum letzten Male, da ihm seine „Ministerialgeschäfte“ keine Zeit lassen. Gerlach bringt auch höchstens ein zweistündiges Colleg zusammen und ist sehr alt. Mähly liest, nach Anwendung aller möglichen Zwangsmittel, endlich einmal, aber auch nur zweistündig. Du siehst hieraus, daß schon jetzt alle Arbeit mir überlassen wird: wie dies auch die hiesigen Philologiestudenten fühlen. Nun könnte ja angemessner Weise einmal der alte Gerlach absterben: auf diese Möglichkeit baue ich meine Hoifnungen. Hast Du nicht Gelegenheit Dich dem vortrefflichen höchst ehrenwerthen Vischer bekannt zu machen? Z.B. ihm eine archäologische Mittheilung zu machen: etwa über einen neuen Fund, den die Baseler schleunigst ankaufen können, wie zB. den Steinhäuserschen Apollokopf. À propos: erkundige Dich doch einmal gefälligst bei Steinhäuser, wo denn der Herakleskopf bliebe, auf den wir hier mit Schmerzen warteten. Erfährst Du über sein Verbleiben Details, so schreibe sie doch direkt dem Rathherrn W. Vischer (dies seine Adresse) und gieb als Veranlassung nur an, daß ich mich bei Dir in seinem Namen erkundigt habe.
Ich bitte Dich, nicht über alle diese Propositionen zu lachen: es liegt mir unglaublich viel daran, Dich hierher zu bekommen. Anbei die Bemerkung, daß Ritschl hier bei Vischer allmächtig ist und über mich damals einen wirklich fabelhaften Brief geschrieben hat. Du kannst Dir vorstellen, daß dieser Brief von vorn herein meine Stellung etwas schwierig machte: indessen hoffe ich, mich durch meine Antrittsrede leidlich eingeführt zu haben, nämlich mit entschiedenster Ausprägung der Individualität. Thema: „die Persönlichkeit Homers.“ Ganz gefüllte Aula.
Neulich habe ich indiskreter Weise eine schöne Stelle aus Deinen früheren Briefen über Wagner ihm selber vorgelesen: er war sehr gerührt und hat sich eine Abschrift ausgebeten.
Mache ihm (und mir) doch bald das Vergnügen und schreibe ihm einen recht ausführlichen Brief. Du bist ihm durchaus kein Unbekannter mehr. Seine Adresse: „Herrn Richard Wagner, in Tribschen bei Luzern.“ Ich habe neulich wieder zwei Tage bei ihm logirt und mich erstaunlich erquickt gefühlt. Er macht alles wahr, was wir nur wünschen konnten: die Welt kennt gar nicht die menschliche Größe und Singularität seiner Natur. Ich lerne sehr viel in seiner Nähe: es ist dies mein praktischer Kursus der Schopenhauerschen Philosophie. — Die Nähe Wagners ist mein Trost.
Bis jetzt habe ich Dich um zwei Briefe gebeten, an Vischer und an Wagner. Jetzt kommt noch ein ganz persönlicher Wunsch. Auf Deiner Rückreise kommst Du doch gewiß nach Florenz: kannst Du mir nicht eine Collation von dem certamen Hesiodi et Homeri machen? Einen Text findest Du in älteren Hesiodausgaben, auch bei Göttling, dann bei Westermann.
In Neapel, wie ich mich aus einem Privatgespräch mit Tischendorf erinnere, existirt ein noch ungelesener Palimpsest. Willst Du Dir ihn nicht aufsuchen? — Vielleicht beschreibst Du mir auch einmal den dortigen Laertiuscod. saec. XII: eine Collation bekomme ich von Wachsmuth falls ich nämlich, wie wahrscheinlich ist, doch noch der futurus editor Laertii bin. Usener nämlich und ich beabsichtigen ein philosophie-historisches corpus, an dem ich mit Laertius, er mit Stobaeus, Pseudoplutarch usw. participire. Dies sub sigillo. —
Kannst Du nicht gelegentlich etwas nach der alten vorambrosianischen Laertiusübersetzung spüren, welche Rose nicht gefunden hat, die aber doch wohl noch existiert? —
Beiläufig: der dumme Christoph Ziegler, den ich wegen seiner Theognisausgabe etwas gezüchtigt habe, hat sich zu vertheidigen gesucht, in einem Inserate der Fleckeisenschen Jahrbücher. Antwort darauf ist unnöthig, ist aber schon von Hink in dem Leutsch’schen Anzeiger gegeben worden.
Kennst Du denn die neuen famosen plautinischen Excurse von Ritschl? — Ist denn Deine Polluxarbeit noch nicht gedruckt? Was hat denn unser Röscher eigentlich für litterarische Pläne in Italien? Romundt hat eine „grammatisch-philosophische’’ Dissertation geschrieben über λέγω etc. Der kleine Kinkel, in Zürich „das Wurm“ genannt spielt dort, wie es scheint, eine klägliche Rolle, hat sich aber verlobt heu heu! Doch ich bin ja in den Lucian-Müllerschen Sammelsurienstil verfallen: verzeihe mir, aber ich bilde mir ein daß Du gar nichts von unsrer hyperboreischen Welt zu hören bekommst.
Schließlich zu Deinem Erstaunen die Ankündigung meiner Wintercollegien: Lateinische Grammatik. Geschichte der vorplatonischen Philosophie, mit Interpretation ausgewählter Fragmente. Im Seminar Hesiods Ἔργα.
Ist das nicht fabelhaft?
Und so lebe wohl, theuerster Freund, stärke Dir Herz und Auge für eine lange Zeit, die Du wieder im nebligen Deutschland verbringen wirst: falls Du nicht vorziehst freier Schweizer zu werden, wie Dein
treuster Freund
F Nietzsche
Bringe Röscher meine besten Grüße!