1869, Briefe 1–633
612. An Wilhelm Vischer (-Bilfinger) in Basel
Leipzig, Lessingstr. 22, 2 Tr.am 1 Febr. 1869.
Hochverehrtester Herr Professor,
nach dem, was mir heute Herr Geheimrath Ritschl mitgetheilt hat, ist es mir nicht nur erlaubt, sondern geboten, mich an Sie persönlich zu wenden und Ihnen eine unumwundene Erklärung darüber zu geben, wie ich mich im Falle einer Berufung usw. verhalten werde. Da mir alle dabei in Betracht kommenden Bedingungen und Verpflichtungen ebenso bekannt als erwünscht sind, so glaube ich getrosten Muthes aussprechen zu dürfen, daß ich eine eventuelle Berufung abzulehnen keinen Grund habe. Vielmehr bitte ich Sie, versichert zu sein, daß ich mit frischen Kräften, redlichem Fleiße und bestem Willen meinem Berufe leben werde, zumal es mein herzlicher Wunsch sein muß, das ausgezeichnete Vertrauen, mit dem Sie mich geehrt haben, einigermaßen zu rechtfertigen.
Für den Fall nun, daß ich von Anfang Mai ab an der Universität Basel thätig sein dürfte, wäre es mir von besonderem Werthe, Ihre Wünsche betreffs meiner Vorlesungen zu kennen, da man, um Vorlesungen passend zu wählen, mit den Bedürfnissen und Zuständen der betreffenden Universität vertrauter sein muß als ich es gegenwärtig sein kann. Einstweilen hatte ich daran gedacht, über Hesiods Ἔργα priv. und über Quellenkunde der griechischen Literaturgeschichte publ. zu lesen. Doch corrigieren sich diese Absichten von selbst, so bald ich etwas Näheres über Ihre Wünsche in Erfahrung gebracht haben werde.
Ich bin in dankbarer Verehrung
Ihr
ergebenster
Friedrich Nietzsche.
NB. Ich habe noch beizufügen, daß meine Promotion spätestens in vier Wochen erfolgt sein wird.
[Beilage]
Ich, der Sohn eines protestantischen Landgeistlichen, wurde am 15ten Oktober 1844 in dem Dorfe Röcken, unweit Merseburg, geboren und verlebte hier die ersten vier Jahre meines Lebens. Als aber der unzeitige Tod meines Vaters eine neue Heimat zu suchen nöthigte, war es Naumburg, auf das die Wahl meiner Mutter fiel. Hier bin ich in einem Privatinstitut für das Domgymnasium desselben Ortes vorgebildet worden, doch ohne diesem später dauernd anzugehören. Es bot sich nämlich bald eine Gelegenheit, in der benachbarten Schulpforte Aufnahme zu finden. Die Vorbedingungen zu einem Studium der Philologie werden einem Pförtner Schüler geradezu an die Hand gegeben. Es werden in dieser Anstalt mitunter spezifisch philologische Aufgaben gestellt zB. kritische Commentare über bestimmte sophokleische oder äschylische Chorgesänge. Dann ist es ein besondrer Vorzug der Schulpforte, daß unter den Schülern selbst eine angestrengte und mannichfache Lektüre griechischer und römischer Schriftsteller zum guten Ton gehört. Das Glücklichste aber war, daß ich gerade auf ausgezeichnete philologische Lehrer traf, auf Männer wie Steinhart, Corssen, Koberstein, Keil, Peter, die mir zum Theil auch ihre nähere Neigung schenkten:
Als ich nach einem sechsjährigen Aufenthalte der Schulpforte als einer strengen aber nützlichen Lehrmeisterin dankbar Lebewohl gesagt hatte, gieng ich nach Bonn. Hier richteten sich meine Studien eine Zeitlang auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung. Außer diesen theologischen Streifzügen war ich Zuhörer in den philologischen und archaeologischen Seminarien. Aus der Ferne verehrte ich die Persönlichkeit Friedrich Ritschl’s. So fand ich es ganz natürlich zu gleicher Zeit mit ihm Bonn zu verlassen und mir Leipzig als neue akademische Heimat zu wählen.
Hier fühlte ich mich sehr wohl; vor allem fand ich eine Anzahl gleichstrebender Kameraden, mit denen ich mich bald zu einem philologischen Vereine verband. In ihm habe ich fünf größere Vorträge gehalten, deren Titel aufzuzählen hier am Ort sein wird. „Die letzte Redaktion der Theognidea.“ „Die Quellen des Suidas.“ „Die aristotelischen Schriftenverzeichnisse.“ „Die Gleichzeitigkeit Homers und Hesiods.“ „Der Cyniker Menipp und die Varronischen Satiren.“ Auf die Veranlassung Ritschl’s sind sodann im Rheinischen Museum folgende Aufsätze gedruckt worden: „Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung“ „das Danaelied des Simonides“ „de Laertii Diogenis fontibus.“ Im Jahre 1866 machte ich mich daran, eine von der philosophischen Fakultät gestellte Preisaufgabe zu lösen. Die Nachricht, daß ich dies mit Glück gethan habe, bekam ich in Naumburg. Ich hatte mich nämlich im Sommer 1867 exmatrikulieren lassen, weil ich inzwischen als brauchbar zum soldatischen Dienste befunden worden war. Als reitender Artillerist hatte ich vollauf zu arbeiten und zu lernen; doch gerieth ich in Folge eines unglücklichen Sturzes in eine gefährliche Krankheit, die in ihrem Verlaufe wiederum das Angenehme mit sich brachte, daß ich zeitiger zu meinen Studien zurückkehren konnte, als es die militärische Regel erlaubt haben würde. Im Oktober 1868 verließ ich Naumburg als völlig Genesener, um in Leipzig meine Promotion und Habilitation vorzubereiten. Es war nämlich meine Absicht, beide Akte gleichzeitig zu bewerkstelligen; nach den bestehenden akademischen Gesetzen war mir aber die Habilitation nicht vor Ostern 1869 erlaubt. —
Friedrich Wilhelm Nietzsche.