1869, Briefe 1–633
35. An Friedrich Ritschl in Leipzig
<Naumburg,> 16 Oct. 1869.
Lieber und verehrtester Herr Geheimrath,
daß ich Ihnen nur verrathe, welche ganz besondere Freude mir gestern Ihr herzlicher Brief machte, der gerade, mit „allster Eile“ zur allerrechtesten Zeit kam, nämlich am Morgen meines Geburtstages. Ein schönes und fröhliches Wahrzeichen!
Ich mache mich aber nun eilig darüber, auf die angeführten Einzelheiten zu antworten. Da ich Montag Mittag von hier nach Basel abreise, so möchte es mir wohl noch möglich sein, vorher in den Besitz des Andresen’schen Ms’s. zu kommen: falls Ihnen eine solche beschleunigte Absendung nicht unbequem ist. Ich will dann, nach Einsicht des Ms’s. direct an Engelmann schreiben, würde aber bestimmter auf Erfolg rechnen, wenn Sie mir entweder auf einem Zettel oder in einigen Worten an mich ein Urtheil über diese Arbeit beischrieben, das ich dem Engelmann unter die Augen bringen könnte.
Wenn Sie sich sodann nach meiner nächsten größeren Publikation erkundigen, so wäre mir gerade in diesem Puncte ein wohlwollend-eindringlicher Rath von grösstem Werthe. Um nämlich ein größeres Buch mit fortlaufender Entwicklung eines Grundgedankens fertig zu machen, fehlt es mir augenblicklich an Allem, bei der Art meiner jetzigen Collegienvorbereitung, die mich zwingt, zum Alltagsbedarf das Quantum Productivität aufzuzehren. Doch… es kann ja nicht immer so bleiben — Dagegen könnte ich, nicht ohne Wollust, einen hübschen Band vermischtester Dinge, ein rechtes „Leipziger Allerlei“ zusammenstellen, theils litterarhistorische Erkenntnisse, theils neue Ansichten und Aussichten, drittens ein tüchtiges Bündel von Coniecturen zu Aeschylus Sophocles Lyrikern Laertius usw. Warum sollte es nicht erlaubt sein, mit einer solchen lustigen Buntheit und Unordnung ans Tageslicht zu kommen, nöthigenfalls unter halber Anonymität? Vielleicht wird so ein Miscellenbuch gar nicht ungern gelesen.
Sagen Sie mir doch ein entschiedenes und entscheidendes Ja! oder Nein!
Ein größeres Buch über Laertius soll ungefähr in zwei Jahren ausgearbeitet sein. Vielleicht auch eine Ausgabe der Choephoren.
Zum Schluß meinen allerwärmsten Dank für Ihre Liebe und Sorgfalt für mich und schönste Grüße an Ihre verehrten Angehörigen: meine Schwester ist über Ihre freundlichen Worte ganz „üppig“, besonders auch im Hinblick auf das in Aussicht gestellte Freiexemplar des Index. Sie hilft mir recht kräftig, wenn sie auch die Schriftennamen öfters etwas verdreht, z.B. Cäsar eine Schrift über „Civilehe“, eine andere „vom schönen Alexander“ usw. zuschreibt.
Mich und die Meinigen bestens empfehlend
in treuester Ergebenheit
Ihr Schüler
Friedr Nietzsche.