1869, Briefe 1–633
4. An Richard Wagner in Tribschen
Basel am 22 Mai 1869.
Sehr verehrter Herr,
wie lange habe ich schon die Absicht gehabt, einmal ohne alle Scheu auszusprechen, welchen Grad von Dankbarkeit ich Ihnen gegenüber empfinde; da sich thatsächlich die besten und erhobensten Momente meines Lebens an Ihren Namen knüpfen und ich nur noch einen Mann kenne, noch dazu Ihren großen Geistesbruder Arthur Schopenhauer, an den ich mit gleicher Verehrung, ja religione quadam denke. Ich freue mich, Ihnen an einem festlichen Tage dies Bekenntniß ablegen zu können und thue dies nicht ohne ein Gefühl des Stolzes. Denn wenn es das Loos des Genius ist, eine Zeitlang nur paucorum hominum zu sein: so dürfen doch wohl diese pauci sich in einem besonderen Grade beglückt und ausgezeichnet fühlen, weil es ihnen vergönnt ist, das Licht zu sehen und sich an ihm zu wärmen, wenn die Masse noch im kalten Nebel steht und friert. Auch fällt diesen Wenigen der Genuß des Genius nicht so ohne alle Mühe in den Schooß, vielmehr haben sie kräftig gegen die allmächtigen Vorurtheile und die entgegenstrebenden eignen Neigungen zu kämpfen; so daß sie, bei glücklichem Kampfe, schließlich eine Art Eroberungsrecht auf den Genius haben.
Nun habe ich es gewagt, mich unter die Zahl dieser pauci zu rechnen, nachdem ich wahrnahm, wie unfähig fast alle Welt, mit der man verkehrt, sich zeigt, wenn es gilt, Ihre Persönlichkeit als Ganzheit zu fassen, den einheitlichen, tiefethischen Strom zu fühlen, der durch Leben Schrift und Musik geht, kurz, die Athmosphäre einer ernsteren und seelenvolleren Weltanschauung zu spüren, wie sie uns armen Deutschen durch alle möglichen politischen Miseren, durch philosophischen Unfug und vordringliches Judenthum über Nacht abhandengekommen war. Ihnen und Schopenhauer danke ich es, wenn ich bis jetzt festgehalten habe an dem germanischen Lebensernst, an einer vertieften Betrachtung dieses so räthselvollen und bedenklichen Daseins.
Wie viele rein wissenschaftlichen Probleme sich mir durch den Hinblick auf Ihre so einsam und merkwürdig dastehende Persönlichkeit allmählich erklärt haben, möchte ich Ihnen lieber einmal mündlich sagen, wie ich es auch gewünscht hätte, alles was ich eben geschrieben habe, nicht schreiben zu müssen. Wie gern würde ich an dem heutigen Tage in Ihrer See- und Bergeinsamkeit erschienen sein, wenn nicht die leidige Kette meines Berufes mich in meiner Basler Hundehütte zurückhielte.
Schließlich habe ich noch die Bitte auszusprechen, der Frau Baronin von Bülow bestens empfohlen zu werden und mich selbst zeichnen zu dürfen
als Ihren treusten
und ergebensten Anhän-
ger und Verehrer
Dr Nietzsche
Prof. in Basel.