1869, Briefe 1–633
621. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, zweite Februarhälfte 1869>
Liebe Mutter und Schwester,
ich rechne mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf, daß Eure Gemüther nach diesem plötzlichen Stoß des Schicksals sich wieder etwas beruhigt haben, daß Ihr Euch an jene Thatsache bereits gewöhnt habt. Es wurde mir förmlich etwas Angst bei dem Enthusiasmus Eurer Briefe; schließlich ist ein Professor mehr auf der Welt, und damit ist doch wahrlich Alles beim Alten geblieben. Ich fürchte, daß man sich in Naumburg ein wenig lustig macht über Eure Freude: und Ihr werdet es nicht übel nehmen, wenn ich dies selbst thue. Worin besteht nun dieses wunderbare Glück, diese entzückende Neuigkeit? Was ist der Kern dieses so verherrlichten Pudels? Schweiß und Mühe: aber um nachzufühlen, bis zu welchem Grade, müßtet Ihr selbst in meiner Haut stecken. Aber Ihr habt bloß die Sahne abgeschöpft, und die mag Euch wohl geschmeckt haben. Mir bleibt die Schlackermilch des täglichen eintönigen Berufs, der freundelosen Einsamkeit usw.
Nach diesen Betrachtungen will ich Euch einiges Thatsächliche erzählen.
Natürlich bekam ich Gratulationen von allen Seiten, Telegramme von Euch, von Schenks und von Dächsel, Briefe von allen meinen Freunden (nur von Volkmann, Mushacke und Deussen bis jetzt nicht). Es wurde auch viel gefeiert und leben gelassen; und die ganze Zeit war gesellschaftlich etwas angreifend. Ich will aufzählen, was mir in den Kopf kommt also ein Herrensouper beim Hofrath Roscher, mehrere Gesellschaften bei Brockhaus, bei Frau Jäger, bei Curtius, bei Ritschl, bei Brockh<aus> und Ritschl ein paar Mal zu Tisch, Professorium. Dann bin ich auch in den Laube’schen Salon eingeführt und gehe wöchentlich einmal hin. Er ist täglich von 5—½7 offen; man trifft dort Menschen aller Klassen, Collegen, Litteraten und hübsche Schauspielerinnen etc.
So viel vom Treiben der Gesellschaft. In der Mitte März komme ich nach Naumburg, um dort einiges Praktische noch mit Euch abzumachen. Zudem werdet Ihr mich wohl auf eine längere Zeit nicht wieder sehen: denn ich höre zu meinem Ärger, daß die Ferien der Universität und der Schule nicht zusammenfallen.
Inzwischen könnt Ihr mir einen Gefallen thun, nämlich Euch nach einem Bedienten umsehn, den ich mitnehmen werde. Meine Wünsche resp. Bedingungen sind diese: er darf nicht zu jung sein, muß Neigungen zur Reinlichkeit und Ehrlichkeit haben. Es ist gut, wenn er Soldat war. Ich hasse den Naumburger Volksdialekt. Ein beispielloser Grad von Bornirtheit wäre mir unerwünscht. Er kann dabei ein Handwerk treiben, falls es reinlich und wohlriechend ist.
Im April reise ich ab. Meine Vorlesungen für das Sommersemester sind bereits angekündigt. Dann habe ich den griechischen Unterricht in der Prima des dortigen Gymnasiums zu geben. Auch das Seminar (das philologische) ist unter meiner Leitung. — Doch das wißt Ihr alles, sollte ich denken!
Nun lebt recht wohl und denkt
oft an Euren
Fr.