1869, Briefe 1–633
609. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, 17. Januar 1869>Sonntags.
Liebe Mutter und Schwester,
endlich, werdet Ihr sagen, Nachricht in und aus dem neuen Jahre! Wenn ich nun recht langweilig sein wollte, könnte ich die Neuigkeiten des neuen Jahres so zusammen fassen: Arbeit — Arbeit — Arbeit — und hier und da ein Plaisirchen. Wenn ich die letzteren aber hinter einander erzähle, so bildet Ihr Euch schließlich wieder ein, ich lebte in einem fortwährenden Festtaumel. Da war ich z. B. neulich zu einem Professorenballe eingeladen (freilich war ich nicht dort), dann gehe ich mitunter mit Frau Ritschl ins Theater, dann erinnere ich mich eines schönen Herrensoupers bei Zarncke (mit Austern und Chablis etc) dann brachte mich ein Brockhaussches Billet am Neujahrstage ins Gewandhaus, dann gedenke ich am Donnerstag nach Dresden zu fahren zur Meistersingeraufführung, zusammen mit dem Pastor Brockhaus, bei dem ich heute Morgen gefrühstückt habe, usw. Doch fällt mir eben ein, daß Gustav Krug bestimmt den Termin der Aufführung wissen wollte. Sagt ihm gefälligst, daß, wenn den Dresdner Lokalblättern zu trauen ist, die erste Aufführung nächsten Donnerstag stattfände. Es sollte mich freuen, wenn er nach Dresden käme.
In diesen Tagen hat hier am Theater ein Fräulein Felicitas von Vestvaly gastirt und zwar mit Männerrollen, als Hamlet und Romeo: ein Weib mit einem kolossalen kraftvollen Contraalt und großem Talent. Sie tritt in 3 Sprachen auf, besitzt in Amerika ein Theater als Direktrice und stammt aus einer gräflichen Familie. Zudem duellirt sie sich vortrefflich; der alte Theaterdiener, der sie zu Hause im Schlafrock sah, schwor darauf, es wäre ein Mann. Nächstens beginnt das öffentliche Regime Laube’s, während das geheime, die Vorbereitung zu seiner ersten Aufführung schon im Gange sind. Ich habe Gelegenheit, aber kaum Zeit, ihn kennen zu lernen. — In der nächsten Woche gastirt übrigens Hedwig Raabe; es wäre möglich, daß Ihr oder Wenkels den Geschmack hättet, gerade sie sehen zu wollen. Für diesen Fall bitte ich darum, daß mir an dem Tage Eurer Ankunft spätestens bis früh um 9 Uhr telegraphisch berichtet wird, wann und in welcher Zahl Ihr kommt: damit ich die nöthigen Schritte wegen der Billete zur rechten Zeit thun kann. Was gespielt wird, erfahrt Ihr aus allen Leipziger Zeitungen, und ebensobald wie ich d.h. tagsvorher.: da man hier nicht die gute Sitte hat, am Sonntag das Repertoir der kommenden Woche bekannt zu machen. — Solltet Ihr Lust haben, der ersten Laubeschen Aufführung beizuwohnen (Demetrius von Schiller, fortgesetzt von Laube) so bitte ich, mir allernächstens Auftrag zu geben, da sonst alle Möglichkeit Billete zu bekommen genommen ist.
Am 2ten Februar dh. am Tage nach dieser Laubeschen Aufführung würde ich wahrscheinlich nach Naumburg kommen: vielleicht ist es zu arrangieren, daß wir zusammen die Rückreise nach N. machen.
Übrigens erwarte ich von Dir , liebe Elisabeth, nächstens einen Brief von wegen eben dieses zweiten Februars.
Und so wünscht mir, daß es mir gut und glücklich gehe, auch im neuen Jahre, wie ich es Euch wünsche (ein verschämter, etwas altbackner, aber doch noch genießbarer Neujahrswunsch resp. eine Aufforderung mir zu gratulieren! Ha ha ha! (Lacht.)
Ha ha ha! (Lacht noch einmal.)
Schrumm! (Geht ab.)
F N.