1869, Briefe 1–633
16. An Sophie Ritschl in Leipzig (Entwurf)
<Interlaken, 26. Juli 1869>
Wie im vorigen Jahr aus Wittekind, so bekommen Sie auch in diesem Jahr wieder einen Badebrief, geschrieben in Interlaken, Angesichts der Jungfrau; und sieht man von dem lächerlichen Gegensatz der bescheidnen Saalufer und der besagten Jungfrau ab, so ist meine Situation der damaligen zu ähnlich, um nicht eine besondere Logik in diesem Zusammentreffen von Brief- und Badestimmung finden zu dürfen. Sollte es vielleicht diese sein, daß wir gelehrten Maulwürfe uns erst in der Luft des Badelebens etwas abstäuben lassen müssen bevor wir es wagen können uns mit Frauen zu unterhalten, vor denen wir uns gern recht reinlich und säuberlich präsentiren möchten? Und gerade in diesem Sommer habe ich, aus begreiflichen Gründen, mehr Staub als je, noch dazu berufsmäßig also mit Würde schlucken müssen: so daß ich mich gewißlich dem Urbilde des deutschen Professors bereits um einige tüchtige Schritte genähert habe ... Zudem bietet Basel und die Baseler Gesellschaft durchaus keine kultivirenden Einwirkungen: man verbraucht nirgend weniger Handschuhe als hier, und ob die „Junfer“ B. oder Merian (im Deutschen übersetzt Schulze und Müller) etwas sagt oder nicht, ist ganz gleichgültig und an sich langweilig: von dem Einfluß der Frauen merkt man hier nichts, es sei denn, daß sie jede Geselligkeit in eine Baseler Stadtklatscherei herunterziehn. Sie begreifen also verehrte Fr G<eheimräthin> mit welcher Sehnsucht dann wieder mit welch dankbarer Empfindung ich gelegentlich an die Leipziger Athmosphaere und an das Rosenthal, zurück denke. Denken Sie aber ja nicht daß ich die Baseler Männlein, besonders meine so höchst ehrenwerthen Collegen etwa auf Unkosten der Weiblein loben wolle: fast allen hat die Natur die Anmuth und den künstlerischen Aufschwung versagt, und selbst der mir näher stehende Jakob Burkhardt lebt, als vermögender Mann, in der geschmacklosesten Dürftigkeit und geht Abend für Abend zu den Baseler Philistern in die Bierstube. Rechnen sie nun dazu den absurden Schweizerpatriotismus (der wie der Schweizerkäse vom Schafe stammt und ebenso gelbsüchtig neidisch wie jener aussieht), die Miene der Überlegenheit, mit der sie auf deutsche Verhältnisse, mitunter auf uns Deutsche selbst, hinsehen: es kommt zu viel zusammen um nicht zu einem fast einsiedlerischen Leben bestimmt zu werden, besonders für einen, der wie ich, wenig Geschick in geselligen Tugenden auf zu weisen hat.
Dabei befinde ich mich nicht übel: ja ich würde gar nichts vermissen wenn noch einer meiner wenigen Freunde hierher nach Basel verschlagen würde. Ich angle durch Briefe nach einem oder dem andern, doch bis jetzt ohne Erfolg. Von großem Werthe ist mir, wie Sie mir das prophezeit haben, die Möglichkeit, mich bei Richard W. wieder etwas erholen zu können: und ich habe dort am schönsten Gestade des Vierw<ald>st<ätter>sees mit ihm und der ausgezeichneten Frau v B<ülow> die genußreichsten Tage dieses Sommers verlebt. Ich bilde mir ein, ihn jetzt nun wirklich als solchen zu kennen, wie ihn mir seine Leipz. Schwester geschildert hat, als einen der idealsten Menschen, und übervoll der edelsten und größten Gedanken und völlig frei von allen jenen armseligen Äußerlichkeiten und Flecken, mit denen ihn die lasterhafte Frau Fama behängt hat.
Doch die Zeit ist da den Brief zu schließen Molke zu trinken und schlechte Musik zu hören: <es> ziemt uns Philologen doch besonders gerade im Kleinsten recht treu und zuverlässig zu sein, also z B. in der Molkekur,
Und so schließe ich denn Mit dem herzlichen Wunsche, bei Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl stets in guter Erinnerung zu stehn, zugleich mit dem Ausdruck
der treusten und dankbarsten Ergebenheit
als Ihr
ergebenster
F. Nietzsche.