1869, Briefe 1–633
47. An Carl von Gersdorff in Berlin
Basel, am Sonntage vor Weihnachten, anno 1869. <19. Dezember>
Theuerster Freund,
dass ich diesmal so spät schreibe, mache ich mir wahrhaft zum Vorwurf: aber glaube mir, dass das Leben eines jungen Docenten mit reissender Schnelle vorüberrauscht, so daß unter der Hand plötzlich zwei Monate seit meinem Geburtstage vergangen sind, und mein heutiger Brief sehr post festum kommt, aber doch zugleich ad festum, nämlich zur Feier Deines eignen Geburtstages. Leider ist der Buchdrucker Schuld, dass ich nicht mit diesem Briefe gleichzeitig auch eine kleine Gabe absenden kann, nämlich meine Baseler Antrittsrede, die ich nur für den engsten Kreis meiner Freunde habe drucken lassen, und deren öffentliches Bekanntwerden durchaus unräthlich ist.
Darf ich vielleicht die Vermuthung aussprechen, dass auch eine besondere Gratulation nach Bezwingung jenes Lindwurms, genannt „Staatsexamen“, heute am Platze ist? Ich habe das herzlichste Mitleid im Gedanken an diese Deine zu überstehenden Qualen empfunden, andernseits den Heroismus bewundert, dass Du in Deinen Briefen gar nichts von den wohlbekannten hochnothpeinlichen Empfindungen zu erkennen giebst. Mich hat mein Geschick in beinahe wunderbarer Weise über alle diese Schrecken hinweggetragen, wie einen Schlafenden; und ich muss bereits die Rolle eines Examinators, so gut es geht, spielen. Deutlicher kann man gar nicht exemplificieren, wie zufällig und folglich wie unzuverlässig solche Examina sind: ich der ich, bei einer leisesten Wendung meines vergangnen Lebens, wahrscheinlich jetzt alle Nöthe des Examens zu bestehen hätte, fungire als Examinator. Im Übrigen bin ich der aufrichtigen Meinung, dass das Härteste, was man zu ertragen hat, auch das Nützlichste ist: und in diesem Sinne rufe ich Dir, victori felicissimo, zu: „Wohl bekomms!“
Das Bild unseres Meisters, mit dem Du meine Stube geziert hast, erinnert mich, Dir von der Gründung einer Societas Schopenhaueriana in Leipzig Mittheilung zu machen: sie ist angeregt durch unseren Freund Dr. Romundt. Was wirst Du sagen, dass mein bester Schüler hier, plötzlich Schopenhauer-fanaticus geworden ist und die ethischen Schriften ins Französische zu übersetzen begonnen hat, ebenso wie Kants Prolegomena? Es ist nämlich ein Waadländer, Namens Cornu.
In den nächsten Tage<n> reise ich ab, um die Weihnachtswochen- und Freuden mit meinem edlen und genialen Freunde R. W. zu verleben, in seinem prächtigen Landsitz Tribschen bei Luzern. Würde ich vielleicht dort gute neue Nachricht von Dir erwarten dürfen?
So sind wir nun durch alle Welt zerstreut, Rohde der ausgezeichnete Mensch, auf dessen treue Freundschaft ich gewiss stolz bin, in Rom beim Concil, Deussen, der mir schrieb, dass Schopenhauer für ihn fast schon ein heiliger Name sei, in Minden als Gymnasiallehrer, Romundt als Erzieher in Leipzig usw. — alles in Amt und Würden, an der Schwelle des „Philisteriums“. Wir haben gegen dieses Greuel aller Greuel, gegen diese graue Sphaere der Mittelmässigkeit die herrlichsten Gegenmittel in der Verehrung unserer allerheiligsten Philosophie, in der Kunst, und — nicht am wenigsten —
in unsrer Freundschaft. Treulichst
F. N.