1869, Briefe 1–633
23. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Basel, MontagAbend.<23. August 1869>
Liebe Mutter,
Zurückgekommen von einem überaus genußreichen, harmonisch-glücklichen zweitägigen Besuche auf Tribschen beim Freunde Wagner, erinnere ich mich, daß ich Dir noch für zwei Briefe Dank und Antwort schulde. Vor allem freue ich mich der sicheren Erklärung Deines Kommens im Herbst: aber Du machst Dir eine zu große Vorstellung von meinen nur zu bescheidnen Räumlichkeiten in der neuen Wohnung, wenn Du glaubst daß ich Euch in derselben beherbergen könne. Doch werde ich mich darnach umthun, daß wir doch recht nahe bei einander wohnen; und vielleicht sogar in demselben Hause: was möglich sein könnte, wenn mein College Schönberg zur rechten Zeit, nach seiner Absicht, auszieht: so daß sein Logis frei würde.
— Wir haben nun wieder eifrige und regelmäßige Thätigkeit: sobald das Semester aufhört, und ich völlig frei bin, denke ich, reisen wir zusammen an den zauberischen Genfersee und essen Trauben, nach Lust und nicht zur Kur, wie die Großfürstin.
Da Du Dich für ihre Zusammenkunft mit mir interessirst, so muß ich doch des Näheren erzählen, daß mir dieselbe einen ganz erwünschten Eindruck hinterlassen hat. Sie scheint gut und freisinnig gebildet, zeigt entschiedene Züge von Geist und einen bei Fürstinnen freilich nicht seltenen und bei der Last ihrer Stellung begreiflichen Lebensernst. Dabei hat sie ein liebenswürdig zugängliches und eingängliches Benehmen und leidet nicht an der Sucht fortwährend zu repräsentieren. Ich empfing sie in der von Dir angedeuten Weise, mit einem Bouquet am Bahnhof, geleitete sie über die Rheinbrücke zu Fuß und dann in ihr Hotel zu Wagen und habe dann mit ihr und ihrem Gefolge — sie hatte 21 Zimmer in Beschlag — zu Abend gegessen, so daß ich doch gegen 2-3 Stunden mit ihr zusammen war und auf längere Zeit ganz en deux. Dabei hat sie mir viel aus vergangner Zeit erzählt, viel auch aus allerletzter zB. von Euch, daß zB. Lisbeth in Leipzig so mager geworden wäre und ob sie jetzt Kuhmilch trinke und anderes. Auch haben mir die Hofdamen ein Interesse bewiesen und sich als gutmüthig heitere Wesen dargethan. Es ist ein großer Vortheil, wenn man fürstlichen Personen durchaus unabhängig gegenüber steht und keine Bitten auf dem Herzen hat. Warum hat denn unsre Lisbeth bei ihrem ersten Besuche so geklappert und sich so nervös geberdet? Ich wüßte nicht, daß mich die ganze Angelegenheit genirt hätte: nur bedauerte ich den Zeitverlust.
Die Großfürstin verrieth viel Geschmack für Musik und überlegte sich lange die Nähe von Tribschen und Rich. Wagner. Sie hat ihm durch mich ihre Verehrung ausdrücken lassen.
Nichts war glücklicher als die letzten Tage. Die warme und herzliche Annäherung an Wagner und Frau von Bülow, die völlige Gleichstimmung unsrer Hauptinteressen, W. dabei jetzt gerade in seiner größten Kraft des Genies, die wunderbarsten eben entsprungnen Schöpfungen, das herrliche Tribschen, fürstlich und geistreich eingerichtet — es kommt viel zusammen, um mich hier zu erquicken und mir in meinem Berufe Kraft zu geben. Adieu!
F.N.