1869, Briefe 1–633
10. An Paul Deussen in Minden
<Basel, Juli 1869>
Lieber Freund,
immer noch nicht habe ich Deinen liebenswürdig treuherzigen und behaglichen Brief beantwortet: das fiel mir eben, als ich ihn wieder einmal las, schwer auf die Seele, zugleich mit der Mahnung, daß Du eine Art von Recension über Deine Schrift von mir verlangt hast, während ich sie bis jetzt immer nur durchblättert und angelesen und letzthin zum Buchbinder geschickt habe. Aber nur Geduld! Wenn ich erst meine Vorlesung über Plato lese — und das geschieht in einem der nächsten Semester — dann soll sie auf das ehrlichste berücksichtigt werden. Inzwischen habe ich mich am hübschen Latein, gelegentlichen Bemerkungen und der glänzenden Ausstattung gefreut, wie sie so ein Schooßkind gewiß verdient hat. Unter anderen Umständen würde ich mit dem Werke eines Freundes eine intimere Bekanntschaft so gleich angebahnt haben — aber welch ein Tyrann ist so ein Amt, noch dazu ein so junges, da bekanntlich
ἅπας δὲ τραχύς, ὅστις ἂν νέον κρατῇ.
Doch Du wirst gern etwas näheres hören wollen von diesem Amte und so laß Dir denn erzählen. Die ganze Sache, um die Hauptsache vorweg zu sagen, paßt mir auf den Leib, wie angegossen, ja ich bin ganz offenbar in dem mir natürlichen Element, darüber habe ich keinen Zweifel. Doch wird es noch eine Zeit dauern, bis die Natur sich ganz und vollständig an diese Thätigkeit gewöhnt hat: einstweilen fühle ich mich häufig sehr angegriffen. Jedenfalls habe ich mir für das erste Semester viel zugemuthet: vor allem zwei neue Collegien, zu denen ich mich immer von Tag zu Tag vorbereiten muß, so daß ich etwas von der Hand in den Mund lebe. Sonst gefallen mir diese beiden — Geschichte der Lyrik mit Interpretation und Aeschylus’ Choephoren — recht wohl, und ich bilde mir ein, meinen Zuhörern viele schöne und neue Dinge mitzutheilen. Auch die Thätigkeit im Seminar erscheint mir ziemlich fruchtbringend. Für nächstes Semester habe ich lateinische Grammatik angekündigt, sowie Geschichte der vorplaton. Philosophen (mit Interpretation ausgewählter Fragmente.)
Meine Antrittsrede, die ich in einem ganz gefüllten großen Saal gehalten habe, handelte über die Persönlichkeit Homers.
Am Pädagogium lese ich Plato’s Phaedon und lasse fleißig nach Pförtner Sitte Docimastika schreiben. Schließlich kann ich doch noch einen leidlichen Schulmeister vorstellen. Wer hätte das gedacht?
Wenn Du mich einmal besuchst — auf einer Schweizerreise, wie ich es mir ausgedacht habe — so wirst Du finden, daß ich gut eingerichtet bin und mich hier wohl fühlen kann. Freilich fehlt es mir noch an intimen Freunden. Dagegen bin ich so glücklich Richard Wagner in der Nähe zu haben, und bei ihm, in seiner reizenden Villa am Vierwaldstätter See immer die gastlichste Aufnahme zu finden. Von meinen Collegen stehen mir Jakob Burkhardt, der Kunsthistoriker und der Nationalökonom Schönberg am nächsten. Rohde schreibt mir viel aus Italien, Gersdorff aus Berlin: und aus Minden bald einen Brief zu bekommen würde mich sehr erfreuen.
Adieu, bester Freund.
Fr. N.